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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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chen Kummer hatten, aber sie wagten's nicht, ihn
einander zu entdecken. Oft sahn sie sich Stunden-
lang stillschweigend an; drückten sich die Hände,
küßten sich, und blickten dann weg, um ihre Thrä-
nen zu verbergen. Wenn Sophie allein war, so
kniete sie vor ihrem Krucifix, bat um ihren Tod,
und setzte sich dann hin, um Stickereyen, oder
Agnus Dei zu machen. Sie stickte Blumen, aber
immer nur mit blassen Farben, oder halbverwelkte.
Oft zeichnete sie einen Grabhügel aufs Papier,
und Cypressen drum herum. Auf den Grab-
stein schrieb sie ihren Namen; dann weinte sie
aufs Papier, und zerriß es wieder. Sieg-
warts Bildnis schwebte unter tausenderley verschie-
denen Vorstellungen immer ihr vor Augen; der Ge-
danke an ihn mischte sich in ihre Andacht, und in
alles, was sie vornahm. Oft betrübte sie sich dar-
über, und machte sich ein Gewissen draus, an ihn
zu denken. Sie wollte ihn vergessen; aber alles,
alles erinnerte sie wieder an den theuren Jüngling.
Jn dem Augenblick, da sie Gott um Vergebung
bat, daß sie noch so sehr an der Welt hänge, und
so viel an Siegwart denke, in dem Augenblick stellte
ihr die Liebe sein Bild wieder dar, und sie hieng
sich ihm in Gedanken an seinen Arm. Unter die-



chen Kummer hatten, aber ſie wagten’s nicht, ihn
einander zu entdecken. Oft ſahn ſie ſich Stunden-
lang ſtillſchweigend an; druͤckten ſich die Haͤnde,
kuͤßten ſich, und blickten dann weg, um ihre Thraͤ-
nen zu verbergen. Wenn Sophie allein war, ſo
kniete ſie vor ihrem Krucifix, bat um ihren Tod,
und ſetzte ſich dann hin, um Stickereyen, oder
Agnus Dei zu machen. Sie ſtickte Blumen, aber
immer nur mit blaſſen Farben, oder halbverwelkte.
Oft zeichnete ſie einen Grabhuͤgel aufs Papier,
und Cypreſſen drum herum. Auf den Grab-
ſtein ſchrieb ſie ihren Namen; dann weinte ſie
aufs Papier, und zerriß es wieder. Sieg-
warts Bildnis ſchwebte unter tauſenderley verſchie-
denen Vorſtellungen immer ihr vor Augen; der Ge-
danke an ihn miſchte ſich in ihre Andacht, und in
alles, was ſie vornahm. Oft betruͤbte ſie ſich dar-
uͤber, und machte ſich ein Gewiſſen draus, an ihn
zu denken. Sie wollte ihn vergeſſen; aber alles,
alles erinnerte ſie wieder an den theuren Juͤngling.
Jn dem Augenblick, da ſie Gott um Vergebung
bat, daß ſie noch ſo ſehr an der Welt haͤnge, und
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ihr die Liebe ſein Bild wieder dar, und ſie hieng
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[516/0096] chen Kummer hatten, aber ſie wagten’s nicht, ihn einander zu entdecken. Oft ſahn ſie ſich Stunden- lang ſtillſchweigend an; druͤckten ſich die Haͤnde, kuͤßten ſich, und blickten dann weg, um ihre Thraͤ- nen zu verbergen. Wenn Sophie allein war, ſo kniete ſie vor ihrem Krucifix, bat um ihren Tod, und ſetzte ſich dann hin, um Stickereyen, oder Agnus Dei zu machen. Sie ſtickte Blumen, aber immer nur mit blaſſen Farben, oder halbverwelkte. Oft zeichnete ſie einen Grabhuͤgel aufs Papier, und Cypreſſen drum herum. Auf den Grab- ſtein ſchrieb ſie ihren Namen; dann weinte ſie aufs Papier, und zerriß es wieder. Sieg- warts Bildnis ſchwebte unter tauſenderley verſchie- denen Vorſtellungen immer ihr vor Augen; der Ge- danke an ihn miſchte ſich in ihre Andacht, und in alles, was ſie vornahm. Oft betruͤbte ſie ſich dar- uͤber, und machte ſich ein Gewiſſen draus, an ihn zu denken. Sie wollte ihn vergeſſen; aber alles, alles erinnerte ſie wieder an den theuren Juͤngling. Jn dem Augenblick, da ſie Gott um Vergebung bat, daß ſie noch ſo ſehr an der Welt haͤnge, und ſo viel an Siegwart denke, in dem Augenblick ſtellte ihr die Liebe ſein Bild wieder dar, und ſie hieng ſich ihm in Gedanken an ſeinen Arm. Unter die-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/96>, abgerufen am 21.11.2024.