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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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der andern Seite den Ruf ins Kloster, den er für
göttlich hält, den Traum von Verdienstlichkeit und
Heiligkeit, und alles, was eine lebhafte Einbildungs-
kraft, von einem guten Herzen unterstützt, reizendes
am Klosterleben findet. Diese Rolle war nun
ganz für unsern Siegwart gemacht, und er bekam
sie auch, weil sie die stärkste und schwerste zum
Singen war. Er war davon ganz bezaubert, und
dachte sich, ohne viele Mühe, ganz in die Rolle,
und die Lage des h. Thomas hinein. Er übte sich
Tag und Nacht im Singen, und täuschte sich oft
dabey so sehr, daß er nicht mehr Siegwart, sondern
der h. Thomas selbst zu seyn glaubte. Unter The-
resen, die ihm auch einmal vom Kloster abgerathen
hatte, dachte er sich die Mutter seines Helden, und
wendete alle Umstände genau auf sich an. Dieser
Umstand fesselte sein Herz aufs neue wieder so fest
ans Kloster, daß ihm die ganze Welt zuwider und
ekelhaft wurde. Oft ward er dem jungen Grün-
bach, der die Rolle der Mutter hatte, ganz im Ernst
böse, wenn sie ihre Arien zusammen probirten.

Als das Stück selbst wirklich aufgeführt wurde,
rührte er durch sein empfindungsvolles Spiel, und
seinen ausdrückenden, herzlichen Gesang fast alle
Zuschauer, und besonders alle Mädchen, bis zu Thrä-



der andern Seite den Ruf ins Kloſter, den er fuͤr
goͤttlich haͤlt, den Traum von Verdienſtlichkeit und
Heiligkeit, und alles, was eine lebhafte Einbildungs-
kraft, von einem guten Herzen unterſtuͤtzt, reizendes
am Kloſterleben findet. Dieſe Rolle war nun
ganz fuͤr unſern Siegwart gemacht, und er bekam
ſie auch, weil ſie die ſtaͤrkſte und ſchwerſte zum
Singen war. Er war davon ganz bezaubert, und
dachte ſich, ohne viele Muͤhe, ganz in die Rolle,
und die Lage des h. Thomas hinein. Er uͤbte ſich
Tag und Nacht im Singen, und taͤuſchte ſich oft
dabey ſo ſehr, daß er nicht mehr Siegwart, ſondern
der h. Thomas ſelbſt zu ſeyn glaubte. Unter The-
reſen, die ihm auch einmal vom Kloſter abgerathen
hatte, dachte er ſich die Mutter ſeines Helden, und
wendete alle Umſtaͤnde genau auf ſich an. Dieſer
Umſtand feſſelte ſein Herz aufs neue wieder ſo feſt
ans Kloſter, daß ihm die ganze Welt zuwider und
ekelhaft wurde. Oft ward er dem jungen Gruͤn-
bach, der die Rolle der Mutter hatte, ganz im Ernſt
boͤſe, wenn ſie ihre Arien zuſammen probirten.

Als das Stuͤck ſelbſt wirklich aufgefuͤhrt wurde,
ruͤhrte er durch ſein empfindungsvolles Spiel, und
ſeinen ausdruͤckenden, herzlichen Geſang faſt alle
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[513/0093] der andern Seite den Ruf ins Kloſter, den er fuͤr goͤttlich haͤlt, den Traum von Verdienſtlichkeit und Heiligkeit, und alles, was eine lebhafte Einbildungs- kraft, von einem guten Herzen unterſtuͤtzt, reizendes am Kloſterleben findet. Dieſe Rolle war nun ganz fuͤr unſern Siegwart gemacht, und er bekam ſie auch, weil ſie die ſtaͤrkſte und ſchwerſte zum Singen war. Er war davon ganz bezaubert, und dachte ſich, ohne viele Muͤhe, ganz in die Rolle, und die Lage des h. Thomas hinein. Er uͤbte ſich Tag und Nacht im Singen, und taͤuſchte ſich oft dabey ſo ſehr, daß er nicht mehr Siegwart, ſondern der h. Thomas ſelbſt zu ſeyn glaubte. Unter The- reſen, die ihm auch einmal vom Kloſter abgerathen hatte, dachte er ſich die Mutter ſeines Helden, und wendete alle Umſtaͤnde genau auf ſich an. Dieſer Umſtand feſſelte ſein Herz aufs neue wieder ſo feſt ans Kloſter, daß ihm die ganze Welt zuwider und ekelhaft wurde. Oft ward er dem jungen Gruͤn- bach, der die Rolle der Mutter hatte, ganz im Ernſt boͤſe, wenn ſie ihre Arien zuſammen probirten. Als das Stuͤck ſelbſt wirklich aufgefuͤhrt wurde, ruͤhrte er durch ſein empfindungsvolles Spiel, und ſeinen ausdruͤckenden, herzlichen Geſang faſt alle Zuſchauer, und beſonders alle Maͤdchen, bis zu Thraͤ-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/93>, abgerufen am 24.11.2024.