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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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voller Kraft zu schlagen. Auf Einmal schwiegen
die jungen Leute, horchten zu, sahn einander oft
mit Verwunderung an, und nickten sich lächelnd zu,
wenn die Sängerin mit ihren Tönen auf den höch-
sten Gipfel stieg, dann wieder langsam und weh-
klagend ihren Ton herabsenkte. Oft drückte sie die
ganze Sehnsucht und das Schmachten aus, mit
dem Sophiens Seele an Siegwarts seiner hieng.
Das arme Mädchen mußte weggehn, und weinen,
Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle
Augenblicke stehen. Siegwart kam durch einen an-
dern Weg, oben in den Gang herunter. Er stand
auch still, und hörte den Gesang der Nachtigall,
die nun nahe bey ihm auf den Zweigen saß. Dann
gieng er allmählig auf Sophien zu, nahm sie in
der Entzückung bey der Hand. Ach, Sophie, sagte
er, das ist himmlisch! Sie sind auch bewegt. Es
geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei-
nen solchen Abend, wenn die Nachtigall so singt,
und die Sterne hell blinken, an Personen, die ich
liebe, oder an Verstorbne. Ach das Bild mei-
ner Mutter schwebt halbsichtbar um mich her,
und ich preise sie selig, daß sie schon bey
Gott ist. -- Auch ich, sagte Sophie, denk an See-
len, die ich liebe. Verzeihn sie, daß ich so bewegt



voller Kraft zu ſchlagen. Auf Einmal ſchwiegen
die jungen Leute, horchten zu, ſahn einander oft
mit Verwunderung an, und nickten ſich laͤchelnd zu,
wenn die Saͤngerin mit ihren Toͤnen auf den hoͤch-
ſten Gipfel ſtieg, dann wieder langſam und weh-
klagend ihren Ton herabſenkte. Oft druͤckte ſie die
ganze Sehnſucht und das Schmachten aus, mit
dem Sophiens Seele an Siegwarts ſeiner hieng.
Das arme Maͤdchen mußte weggehn, und weinen,
Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle
Augenblicke ſtehen. Siegwart kam durch einen an-
dern Weg, oben in den Gang herunter. Er ſtand
auch ſtill, und hoͤrte den Geſang der Nachtigall,
die nun nahe bey ihm auf den Zweigen ſaß. Dann
gieng er allmaͤhlig auf Sophien zu, nahm ſie in
der Entzuͤckung bey der Hand. Ach, Sophie, ſagte
er, das iſt himmliſch! Sie ſind auch bewegt. Es
geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei-
nen ſolchen Abend, wenn die Nachtigall ſo ſingt,
und die Sterne hell blinken, an Perſonen, die ich
liebe, oder an Verſtorbne. Ach das Bild mei-
ner Mutter ſchwebt halbſichtbar um mich her,
und ich preiſe ſie ſelig, daß ſie ſchon bey
Gott iſt. — Auch ich, ſagte Sophie, denk an See-
len, die ich liebe. Verzeihn ſie, daß ich ſo bewegt

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[495/0075] voller Kraft zu ſchlagen. Auf Einmal ſchwiegen die jungen Leute, horchten zu, ſahn einander oft mit Verwunderung an, und nickten ſich laͤchelnd zu, wenn die Saͤngerin mit ihren Toͤnen auf den hoͤch- ſten Gipfel ſtieg, dann wieder langſam und weh- klagend ihren Ton herabſenkte. Oft druͤckte ſie die ganze Sehnſucht und das Schmachten aus, mit dem Sophiens Seele an Siegwarts ſeiner hieng. Das arme Maͤdchen mußte weggehn, und weinen, Sie gieng einen Heckengang hinauf, und blieb alle Augenblicke ſtehen. Siegwart kam durch einen an- dern Weg, oben in den Gang herunter. Er ſtand auch ſtill, und hoͤrte den Geſang der Nachtigall, die nun nahe bey ihm auf den Zweigen ſaß. Dann gieng er allmaͤhlig auf Sophien zu, nahm ſie in der Entzuͤckung bey der Hand. Ach, Sophie, ſagte er, das iſt himmliſch! Sie ſind auch bewegt. Es geht ihnen wohl wie mir; ich denk immer an ei- nen ſolchen Abend, wenn die Nachtigall ſo ſingt, und die Sterne hell blinken, an Perſonen, die ich liebe, oder an Verſtorbne. Ach das Bild mei- ner Mutter ſchwebt halbſichtbar um mich her, und ich preiſe ſie ſelig, daß ſie ſchon bey Gott iſt. — Auch ich, ſagte Sophie, denk an See- len, die ich liebe. Verzeihn ſie, daß ich ſo bewegt

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/75>, abgerufen am 24.11.2024.