Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.nichts lieber reden, als von seinem Tode. Einmal bekam er auch die Erlaubniß, seine Schwester The- rese zu besuchen. Diese, so glücklich sie auch in der Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, so lang ihr Bruder gegenwärtig war, nichts als weinen. Sie sah ihren Bruder, den sie so unaussprechlich liebte, nach und nach dem Tode welken; dieser Anblick war ihr unerträglich. Das ganze Schloß, das sonst so glücklich war, gerieth in Trauer. Siegwart saß ei- nen Abend bey Kronhelm und Theresen, die ihr Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind schlief; Siegwart sah es an, mit Thränen in den Augen. Armes Knäbchen, sagte er, du schlummerst jetzt so ruhig, und lächelft im Schlaf. Wenn du aufwachst, wird die Welt dir entgegen lachen, denn du siehst nirgends keine Sorge. Möchtest du doch ewig ein Kind bleiben, oder sterben, eh das Jüng- lingsalter kommt! Wenn der Jüngling aufwacht, ach dann ists gar anders. Tausend Sorgen wachen mit ihm auf, Leiden werden stets mit ihm geboh- ren, deren Keim schon in der Seele liegt. Gebt mir euren Kleist her, daß ich mein Lieblingsstück wieder einmal lese: Weh dir, daß du gebohren bist etc. -- So sprach er oft bey ihnen, und Kron- helm und Therese wagtens nicht, ihn zu trösten. nichts lieber reden, als von ſeinem Tode. Einmal bekam er auch die Erlaubniß, ſeine Schweſter The- reſe zu beſuchen. Dieſe, ſo gluͤcklich ſie auch in der Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, ſo lang ihr Bruder gegenwaͤrtig war, nichts als weinen. Sie ſah ihren Bruder, den ſie ſo unausſprechlich liebte, nach und nach dem Tode welken; dieſer Anblick war ihr unertraͤglich. Das ganze Schloß, das ſonſt ſo gluͤcklich war, gerieth in Trauer. Siegwart ſaß ei- nen Abend bey Kronhelm und Thereſen, die ihr Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind ſchlief; Siegwart ſah es an, mit Thraͤnen in den Augen. Armes Knaͤbchen, ſagte er, du ſchlummerſt jetzt ſo ruhig, und laͤchelft im Schlaf. Wenn du aufwachſt, wird die Welt dir entgegen lachen, denn du ſiehſt nirgends keine Sorge. Moͤchteſt du doch ewig ein Kind bleiben, oder ſterben, eh das Juͤng- lingsalter kommt! Wenn der Juͤngling aufwacht, ach dann iſts gar anders. Tauſend Sorgen wachen mit ihm auf, Leiden werden ſtets mit ihm geboh- ren, deren Keim ſchon in der Seele liegt. Gebt mir euren Kleiſt her, daß ich mein Lieblingsſtuͤck wieder einmal leſe: Weh dir, daß du gebohren biſt ꝛc. — So ſprach er oft bey ihnen, und Kron- helm und Thereſe wagtens nicht, ihn zu troͤſten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0624" n="1044"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> nichts lieber reden, als von ſeinem Tode. Einmal<lb/> bekam er auch die Erlaubniß, ſeine Schweſter The-<lb/> reſe zu beſuchen. Dieſe, ſo gluͤcklich ſie auch in der<lb/> Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, ſo lang ihr<lb/> Bruder gegenwaͤrtig war, nichts als weinen. Sie<lb/> ſah ihren Bruder, den ſie ſo unausſprechlich liebte,<lb/> nach und nach dem Tode welken; dieſer Anblick war<lb/> ihr unertraͤglich. Das ganze Schloß, das ſonſt ſo<lb/> gluͤcklich war, gerieth in Trauer. Siegwart ſaß ei-<lb/> nen Abend bey Kronhelm und Thereſen, die ihr<lb/> Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind<lb/> ſchlief; Siegwart ſah es an, mit Thraͤnen in den<lb/> Augen. Armes Knaͤbchen, ſagte er, du ſchlummerſt<lb/> jetzt ſo ruhig, und laͤchelft im Schlaf. Wenn du<lb/> aufwachſt, wird die Welt dir entgegen lachen, denn<lb/> du ſiehſt nirgends keine Sorge. Moͤchteſt du doch<lb/> ewig ein Kind bleiben, oder ſterben, eh das Juͤng-<lb/> lingsalter kommt! Wenn der Juͤngling aufwacht,<lb/> ach dann iſts gar anders. Tauſend Sorgen wachen<lb/> mit ihm auf, Leiden werden ſtets mit ihm geboh-<lb/> ren, deren Keim ſchon in der Seele liegt. Gebt<lb/> mir euren Kleiſt her, daß ich mein Lieblingsſtuͤck<lb/> wieder einmal leſe: <hi rendition="#fr">Weh dir, daß du gebohren<lb/> biſt ꝛc.</hi> — So ſprach er oft bey ihnen, und Kron-<lb/> helm und Thereſe wagtens nicht, ihn zu troͤſten.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [1044/0624]
nichts lieber reden, als von ſeinem Tode. Einmal
bekam er auch die Erlaubniß, ſeine Schweſter The-
reſe zu beſuchen. Dieſe, ſo gluͤcklich ſie auch in der
Liebe ihres Kronhelm war, konnte doch, ſo lang ihr
Bruder gegenwaͤrtig war, nichts als weinen. Sie
ſah ihren Bruder, den ſie ſo unausſprechlich liebte,
nach und nach dem Tode welken; dieſer Anblick war
ihr unertraͤglich. Das ganze Schloß, das ſonſt ſo
gluͤcklich war, gerieth in Trauer. Siegwart ſaß ei-
nen Abend bey Kronhelm und Thereſen, die ihr
Kind auf dem Schoos liegen hatte. Das Kind
ſchlief; Siegwart ſah es an, mit Thraͤnen in den
Augen. Armes Knaͤbchen, ſagte er, du ſchlummerſt
jetzt ſo ruhig, und laͤchelft im Schlaf. Wenn du
aufwachſt, wird die Welt dir entgegen lachen, denn
du ſiehſt nirgends keine Sorge. Moͤchteſt du doch
ewig ein Kind bleiben, oder ſterben, eh das Juͤng-
lingsalter kommt! Wenn der Juͤngling aufwacht,
ach dann iſts gar anders. Tauſend Sorgen wachen
mit ihm auf, Leiden werden ſtets mit ihm geboh-
ren, deren Keim ſchon in der Seele liegt. Gebt
mir euren Kleiſt her, daß ich mein Lieblingsſtuͤck
wieder einmal leſe: Weh dir, daß du gebohren
biſt ꝛc. — So ſprach er oft bey ihnen, und Kron-
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