lief erschrocken davon; Brigitte steckte das Blatt schnell ein, und sprach mit der Aebtissin.
Siegwart gerieth in die schrecklichste Angst; er fürchtete, die Aebtissin habe das Blatt gesehen, und sich zeigen lassen, und nun sey alles verrathen. Jn dem Blatt standen diese wenigen Worte:
"Bald, bald kommt die Stunde der Erlösung. Diese Nacht, meine Theureste, soll uns ewig ver- einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung. Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be- stimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott um Beystand zur Erlösung! Verbrenne dieses Blatt!"
Er dachte hin und her, was aus dieser Ueber- raschung werden wollte? Alles Schreckliche stellte sich seiner Seele vor. Er verwünschte den Augen- blick, in dem er diese Zeilen geschrieben hatte. Ein paarmal wollte er schon zur Aebtissin eilen, ihr al- les offenbaren, sich ihr zu Füßen werfen, und sie um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder: Vielleicht stell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat die Aebtissin auf das Blatt nicht geachtet. Jn dieser schrecklichen Unruhe gieng er im dunkelsten Gang des Gartens hin und her, als er Brigit- ten mit rothgeweinten Augen kommen sah. Er
lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin.
Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen. Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte:
„Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung. Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver- einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung. Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be- ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes Blatt!‟
Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber- raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen- blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al- les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder: Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten Gang des Gartens hin und her, als er Brigit- ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er
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lief erſchrocken davon; Brigitte ſteckte das Blatt
ſchnell ein, und ſprach mit der Aebtiſſin.
Siegwart gerieth in die ſchrecklichſte Angſt; er
fuͤrchtete, die Aebtiſſin habe das Blatt geſehen, und
ſich zeigen laſſen, und nun ſey alles verrathen.
Jn dem Blatt ſtanden dieſe wenigen Worte:
„Bald, bald kommt die Stunde der Erloͤſung.
Dieſe Nacht, meine Theureſte, ſoll uns ewig ver-
einigen. Meine Hand zittert vor Erwartung.
Brigitte bringt dich um zehn Uhr an den be-
ſtimmten Ort. Verbirg deine Freude! Bitte Gott
um Beyſtand zur Erloͤſung! Verbrenne dieſes
Blatt!‟
Er dachte hin und her, was aus dieſer Ueber-
raſchung werden wollte? Alles Schreckliche ſtellte
ſich ſeiner Seele vor. Er verwuͤnſchte den Augen-
blick, in dem er dieſe Zeilen geſchrieben hatte. Ein
paarmal wollte er ſchon zur Aebtiſſin eilen, ihr al-
les offenbaren, ſich ihr zu Fuͤßen werfen, und ſie
um Mitleid anflehn. Aber dann dachte er wieder:
Vielleicht ſtell ich mirs zu arg vor; vielleicht hat
die Aebtiſſin auf das Blatt nicht geachtet. Jn
dieſer ſchrecklichen Unruhe gieng er im dunkelſten
Gang des Gartens hin und her, als er Brigit-
ten mit rothgeweinten Augen kommen ſah. Er
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 1013. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/593>, abgerufen am 25.11.2024.
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