ein, und gib ihm diesen Kuß in meinem Namen, wenn ich ihn nicht selber küssen darf!
Die Aerzte bekamen nun immer bessre Hoffnung; aber Kronhelm durfte sie noch nicht anders sehn, als schlasend. Einmal wachte sie auf, als er noch vor ihr stand. Sie streckte stillschweigend ihren Arm nach ihm aus; er sank darein. Beyde konn- ten vor zärtlichem Entzücken nichts thun, als wei- nen. Jhre Kräfte nahmen nun sichtbar wieder zu. Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem Bette. Siegwart freute sich von ganzem Herzen über ihre Genesung; aber dem ohngeachtet nahm doch seine Schwermuth, und seine Abneigung von der Welt mit jedem Tage mehr zu. -- Schreib doch bald ins Kloster! sagte er einmal zu Kron- helm, als sie beyde vor Theresens Bette sassen. Die Welt wird mir täglich mehr zum Ekel; ich sehe, daß sie nichts als ein Sammelplatz von Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger Abwechselung und Unbeständigkeit ist. Du hältst dich jetzt wieder für glücklich, Kronhelm, du hast keinen Wunsch mehr übrig, als die völlige Gene- sung meiner theuren Schwester. Armer Mann! Warst du nicht noch vor zehn Tagen der al- lerunseligste unter allen Menschen; und vier Tage
ein, und gib ihm dieſen Kuß in meinem Namen, wenn ich ihn nicht ſelber kuͤſſen darf!
Die Aerzte bekamen nun immer beſſre Hoffnung; aber Kronhelm durfte ſie noch nicht anders ſehn, als ſchlaſend. Einmal wachte ſie auf, als er noch vor ihr ſtand. Sie ſtreckte ſtillſchweigend ihren Arm nach ihm aus; er ſank darein. Beyde konn- ten vor zaͤrtlichem Entzuͤcken nichts thun, als wei- nen. Jhre Kraͤfte nahmen nun ſichtbar wieder zu. Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem Bette. Siegwart freute ſich von ganzem Herzen uͤber ihre Geneſung; aber dem ohngeachtet nahm doch ſeine Schwermuth, und ſeine Abneigung von der Welt mit jedem Tage mehr zu. — Schreib doch bald ins Kloſter! ſagte er einmal zu Kron- helm, als ſie beyde vor Thereſens Bette ſaſſen. Die Welt wird mir taͤglich mehr zum Ekel; ich ſehe, daß ſie nichts als ein Sammelplatz von Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger Abwechſelung und Unbeſtaͤndigkeit iſt. Du haͤltſt dich jetzt wieder fuͤr gluͤcklich, Kronhelm, du haſt keinen Wunſch mehr uͤbrig, als die voͤllige Gene- ſung meiner theuren Schweſter. Armer Mann! Warſt du nicht noch vor zehn Tagen der al- lerunſeligſte unter allen Menſchen; und vier Tage
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0562"n="982"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
ein, und gib ihm dieſen Kuß in meinem Namen,<lb/>
wenn ich ihn nicht ſelber kuͤſſen darf!</p><lb/><p>Die Aerzte bekamen nun immer beſſre Hoffnung;<lb/>
aber Kronhelm durfte ſie noch nicht anders ſehn,<lb/>
als ſchlaſend. Einmal wachte ſie auf, als er noch<lb/>
vor ihr ſtand. Sie ſtreckte ſtillſchweigend ihren<lb/>
Arm nach ihm aus; er ſank darein. Beyde konn-<lb/>
ten vor zaͤrtlichem Entzuͤcken nichts thun, als wei-<lb/>
nen. Jhre Kraͤfte nahmen nun ſichtbar wieder zu.<lb/>
Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem<lb/>
Bette. Siegwart freute ſich von ganzem Herzen<lb/>
uͤber ihre Geneſung; aber dem ohngeachtet nahm<lb/>
doch ſeine Schwermuth, und ſeine Abneigung von<lb/>
der Welt mit jedem Tage mehr zu. — Schreib<lb/>
doch bald ins Kloſter! ſagte er einmal zu Kron-<lb/>
helm, als ſie beyde vor Thereſens Bette ſaſſen.<lb/>
Die Welt wird mir taͤglich mehr zum Ekel; ich<lb/>ſehe, daß ſie nichts als ein Sammelplatz von<lb/>
Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger<lb/>
Abwechſelung und Unbeſtaͤndigkeit iſt. Du haͤltſt<lb/>
dich jetzt wieder fuͤr gluͤcklich, Kronhelm, du haſt<lb/>
keinen Wunſch mehr uͤbrig, als die voͤllige Gene-<lb/>ſung meiner theuren Schweſter. Armer Mann!<lb/>
Warſt du nicht noch vor zehn Tagen der al-<lb/>
lerunſeligſte unter allen Menſchen; und vier Tage<lb/></p></div></body></text></TEI>
[982/0562]
ein, und gib ihm dieſen Kuß in meinem Namen,
wenn ich ihn nicht ſelber kuͤſſen darf!
Die Aerzte bekamen nun immer beſſre Hoffnung;
aber Kronhelm durfte ſie noch nicht anders ſehn,
als ſchlaſend. Einmal wachte ſie auf, als er noch
vor ihr ſtand. Sie ſtreckte ſtillſchweigend ihren
Arm nach ihm aus; er ſank darein. Beyde konn-
ten vor zaͤrtlichem Entzuͤcken nichts thun, als wei-
nen. Jhre Kraͤfte nahmen nun ſichtbar wieder zu.
Kronhelm und Siegwart kamen nicht von ihrem
Bette. Siegwart freute ſich von ganzem Herzen
uͤber ihre Geneſung; aber dem ohngeachtet nahm
doch ſeine Schwermuth, und ſeine Abneigung von
der Welt mit jedem Tage mehr zu. — Schreib
doch bald ins Kloſter! ſagte er einmal zu Kron-
helm, als ſie beyde vor Thereſens Bette ſaſſen.
Die Welt wird mir taͤglich mehr zum Ekel; ich
ſehe, daß ſie nichts als ein Sammelplatz von
Noth und Elend, und ununterbrochner trauriger
Abwechſelung und Unbeſtaͤndigkeit iſt. Du haͤltſt
dich jetzt wieder fuͤr gluͤcklich, Kronhelm, du haſt
keinen Wunſch mehr uͤbrig, als die voͤllige Gene-
ſung meiner theuren Schweſter. Armer Mann!
Warſt du nicht noch vor zehn Tagen der al-
lerunſeligſte unter allen Menſchen; und vier Tage
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 982. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/562>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.