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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Kronhelm kam dazu, als er dieses ausgeschrie-
ben hatte. Hier, Geliebter, sagte Siegwart, wenn
noch Mariane leben sollte, und du einst von ihr
erführest, gib ihr dieses Blatt! Sie wird es küs-
sen, und drauf weinen, und das Blatt durch
ihre Thränen heiligen. -- Kronhelm las das
Blatt, und ward sehr dabey bewegt. Er
sah wohl, daß die Seele seines Schwagers rief
gebeugt, und schwer zu heilen sey. Daher wag-
te er es auch nicht, ihm Trost einzusprechen, und
ihm von seinem Vorhaben, in die Einsiedeley zu
gehen, abzurathen. Vielleicht, dachte er, in den
acht Tagen, die er noch zu bleiben versprochen
hatte, ein Mittel ausfindig zu machen, ihn zu-
rück zu halten, und seine düstre Schwermuth et-
was zu zerstreuen.

Ein paar Tage drauf fand er, in Theresens
Gegenwart, Gelegenheit, von der Sache wieder
anzufangen. Er drang sehr in ihn, wenn er
doch ja sich von der Welt absondern wolle, lie-
ber, seinem ersten Vorsatz zufolge, in ein Kloster,
als in eine Einsiedeley zu gehen, weil er doch
als Mönch der Welt noch mehr nutzen könne,
als wenn er ein Einsiedler werde. Er rieth ihm
dieses hauptsächlich um seiner Gesundheit willen,



Kronhelm kam dazu, als er dieſes ausgeſchrie-
ben hatte. Hier, Geliebter, ſagte Siegwart, wenn
noch Mariane leben ſollte, und du einſt von ihr
erfuͤhreſt, gib ihr dieſes Blatt! Sie wird es kuͤſ-
ſen, und drauf weinen, und das Blatt durch
ihre Thraͤnen heiligen. — Kronhelm las das
Blatt, und ward ſehr dabey bewegt. Er
ſah wohl, daß die Seele ſeines Schwagers rief
gebeugt, und ſchwer zu heilen ſey. Daher wag-
te er es auch nicht, ihm Troſt einzuſprechen, und
ihm von ſeinem Vorhaben, in die Einſiedeley zu
gehen, abzurathen. Vielleicht, dachte er, in den
acht Tagen, die er noch zu bleiben verſprochen
hatte, ein Mittel ausfindig zu machen, ihn zu-
ruͤck zu halten, und ſeine duͤſtre Schwermuth et-
was zu zerſtreuen.

Ein paar Tage drauf fand er, in Thereſens
Gegenwart, Gelegenheit, von der Sache wieder
anzufangen. Er drang ſehr in ihn, wenn er
doch ja ſich von der Welt abſondern wolle, lie-
ber, ſeinem erſten Vorſatz zufolge, in ein Kloſter,
als in eine Einſiedeley zu gehen, weil er doch
als Moͤnch der Welt noch mehr nutzen koͤnne,
als wenn er ein Einſiedler werde. Er rieth ihm
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[977/0557] Kronhelm kam dazu, als er dieſes ausgeſchrie- ben hatte. Hier, Geliebter, ſagte Siegwart, wenn noch Mariane leben ſollte, und du einſt von ihr erfuͤhreſt, gib ihr dieſes Blatt! Sie wird es kuͤſ- ſen, und drauf weinen, und das Blatt durch ihre Thraͤnen heiligen. — Kronhelm las das Blatt, und ward ſehr dabey bewegt. Er ſah wohl, daß die Seele ſeines Schwagers rief gebeugt, und ſchwer zu heilen ſey. Daher wag- te er es auch nicht, ihm Troſt einzuſprechen, und ihm von ſeinem Vorhaben, in die Einſiedeley zu gehen, abzurathen. Vielleicht, dachte er, in den acht Tagen, die er noch zu bleiben verſprochen hatte, ein Mittel ausfindig zu machen, ihn zu- ruͤck zu halten, und ſeine duͤſtre Schwermuth et- was zu zerſtreuen. Ein paar Tage drauf fand er, in Thereſens Gegenwart, Gelegenheit, von der Sache wieder anzufangen. Er drang ſehr in ihn, wenn er doch ja ſich von der Welt abſondern wolle, lie- ber, ſeinem erſten Vorſatz zufolge, in ein Kloſter, als in eine Einſiedeley zu gehen, weil er doch als Moͤnch der Welt noch mehr nutzen koͤnne, als wenn er ein Einſiedler werde. Er rieth ihm dieſes hauptſaͤchlich um ſeiner Geſundheit willen,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 977. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/557>, abgerufen am 22.11.2024.