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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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so ungeschickt vorbrachte, daß jeder andrer, der we-
niger gehofft hätte, als Siegwart, die List hätte
einsehen müssen.

Er wurde von Kronhelm fast täglich spatzieren
geführt, damit er Abwechslung und Zerstreuung
haben möchte. Sie besuchten jetzt oft zu Pferd die
benachbarten Landedelleute, weil Therese, wegen
ihrer herannahenden Niederkunft selten mehr mit-
fuhr. Herr von Rothfels, (so hieß der junge Edel-
mann, von dem ihm Kronhelm geschrieben hatte,
daß er seine Schwester Sibylle heyrathen würde,)
kam sehr oft nach Steinfeld, und blieb manches-
mal zwey bis drey Tage da; oft besuchten sie ihn
auch auf seinem Schloß. Er war ein angenehmer
junger Mann, der in Wien, wo er studiert
hatte, sich viel gelehrte und noch mehr Welt-
kenntnisse gesammelt hatte. Er fühlte viele Zu-
neigung gegen Siegwart, und nahm an seinen
traurigen Schicksalen vielen Antheil. Er würde
auch Siegwarts Herz und Zutrauen ganz gewon-
nen haben, wenn er minder heiter, oder wenn
Siegwart in einer glücklicheren Lage gewesen wäre.
Aber der junge Rothfels genoß bey Sibyllen das
völlige Glück der Liebe; daher war sein Herz und
sein Blick immer munter; und ein fröhliches Gemüth



ſo ungeſchickt vorbrachte, daß jeder andrer, der we-
niger gehofft haͤtte, als Siegwart, die Liſt haͤtte
einſehen muͤſſen.

Er wurde von Kronhelm faſt taͤglich ſpatzieren
gefuͤhrt, damit er Abwechslung und Zerſtreuung
haben moͤchte. Sie beſuchten jetzt oft zu Pferd die
benachbarten Landedelleute, weil Thereſe, wegen
ihrer herannahenden Niederkunft ſelten mehr mit-
fuhr. Herr von Rothfels, (ſo hieß der junge Edel-
mann, von dem ihm Kronhelm geſchrieben hatte,
daß er ſeine Schweſter Sibylle heyrathen wuͤrde,)
kam ſehr oft nach Steinfeld, und blieb manches-
mal zwey bis drey Tage da; oft beſuchten ſie ihn
auch auf ſeinem Schloß. Er war ein angenehmer
junger Mann, der in Wien, wo er ſtudiert
hatte, ſich viel gelehrte und noch mehr Welt-
kenntniſſe geſammelt hatte. Er fuͤhlte viele Zu-
neigung gegen Siegwart, und nahm an ſeinen
traurigen Schickſalen vielen Antheil. Er wuͤrde
auch Siegwarts Herz und Zutrauen ganz gewon-
nen haben, wenn er minder heiter, oder wenn
Siegwart in einer gluͤcklicheren Lage geweſen waͤre.
Aber der junge Rothfels genoß bey Sibyllen das
voͤllige Gluͤck der Liebe; daher war ſein Herz und
ſein Blick immer munter; und ein froͤhliches Gemuͤth

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[971/0551] ſo ungeſchickt vorbrachte, daß jeder andrer, der we- niger gehofft haͤtte, als Siegwart, die Liſt haͤtte einſehen muͤſſen. Er wurde von Kronhelm faſt taͤglich ſpatzieren gefuͤhrt, damit er Abwechslung und Zerſtreuung haben moͤchte. Sie beſuchten jetzt oft zu Pferd die benachbarten Landedelleute, weil Thereſe, wegen ihrer herannahenden Niederkunft ſelten mehr mit- fuhr. Herr von Rothfels, (ſo hieß der junge Edel- mann, von dem ihm Kronhelm geſchrieben hatte, daß er ſeine Schweſter Sibylle heyrathen wuͤrde,) kam ſehr oft nach Steinfeld, und blieb manches- mal zwey bis drey Tage da; oft beſuchten ſie ihn auch auf ſeinem Schloß. Er war ein angenehmer junger Mann, der in Wien, wo er ſtudiert hatte, ſich viel gelehrte und noch mehr Welt- kenntniſſe geſammelt hatte. Er fuͤhlte viele Zu- neigung gegen Siegwart, und nahm an ſeinen traurigen Schickſalen vielen Antheil. Er wuͤrde auch Siegwarts Herz und Zutrauen ganz gewon- nen haben, wenn er minder heiter, oder wenn Siegwart in einer gluͤcklicheren Lage geweſen waͤre. Aber der junge Rothfels genoß bey Sibyllen das voͤllige Gluͤck der Liebe; daher war ſein Herz und ſein Blick immer munter; und ein froͤhliches Gemuͤth

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 971. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/551>, abgerufen am 01.05.2024.