Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.daß zwey Einsiedler hier im Walde wohnten. Die Bauren gaben meinem Heinrich häufig Almosen; aber heraus in den Wald wagte sich selbst keiner, wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die sich da- durch noch mehr bestärkte, weil mein Heinrich die List gebraucht hatte, etlichemal, sowol bey Tag, als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und erbärmlich zu heulen, welches man für ein Gewin- sel des erhenkten Kerls hielt. -- Hier leb ich nun seit ungefähr zwölf Jahren, so glücklich als es ein Mensch bey meinem Gemüthszustand seyn kann. Anfangs hatt ich oft grosse Beängstigungen. Bald sah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und gerieth in Seelenängste; bald den Schatten meiner unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh sie noch gestorben war, und eh ich in den Wald kam, im Klostergarten gewesen, um sie zu entsüh- ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu- rückgehalten hätte. Meine Stunden sind hier zwi- schen Gebeth und Andachtsübungen, und Thränen bittrer Reue getheilt. Jch kasteye meinen Leib, nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu thun -- meine Sünden kann ich selber durch nichts abbüssen -- sondern weil ich weiß, daß ich nichts als Qual und Schmerzen auf der Welt ver- daß zwey Einſiedler hier im Walde wohnten. Die Bauren gaben meinem Heinrich haͤufig Almoſen; aber heraus in den Wald wagte ſich ſelbſt keiner, wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die ſich da- durch noch mehr beſtaͤrkte, weil mein Heinrich die Liſt gebraucht hatte, etlichemal, ſowol bey Tag, als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und erbaͤrmlich zu heulen, welches man fuͤr ein Gewin- ſel des erhenkten Kerls hielt. — Hier leb ich nun ſeit ungefaͤhr zwoͤlf Jahren, ſo gluͤcklich als es ein Menſch bey meinem Gemuͤthszuſtand ſeyn kann. Anfangs hatt ich oft groſſe Beaͤngſtigungen. Bald ſah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und gerieth in Seelenaͤngſte; bald den Schatten meiner unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh ſie noch geſtorben war, und eh ich in den Wald kam, im Kloſtergarten geweſen, um ſie zu entſuͤh- ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu- ruͤckgehalten haͤtte. Meine Stunden ſind hier zwi- ſchen Gebeth und Andachtsuͤbungen, und Thraͤnen bittrer Reue getheilt. Jch kaſteye meinen Leib, nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu thun — meine Suͤnden kann ich ſelber durch nichts abbuͤſſen — ſondern weil ich weiß, daß ich nichts als Qual und Schmerzen auf der Welt ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0535" n="955"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> daß zwey Einſiedler hier im Walde wohnten. Die<lb/> Bauren gaben meinem Heinrich haͤufig Almoſen;<lb/> aber heraus in den Wald wagte ſich ſelbſt keiner,<lb/> wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die ſich da-<lb/> durch noch mehr beſtaͤrkte, weil mein Heinrich die<lb/> Liſt gebraucht hatte, etlichemal, ſowol bey Tag,<lb/> als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und<lb/> erbaͤrmlich zu heulen, welches man fuͤr ein Gewin-<lb/> ſel des erhenkten Kerls hielt. — Hier leb ich nun<lb/> ſeit ungefaͤhr zwoͤlf Jahren, ſo gluͤcklich als es ein<lb/> Menſch bey meinem Gemuͤthszuſtand ſeyn kann.<lb/> Anfangs hatt ich oft groſſe Beaͤngſtigungen. Bald<lb/> ſah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und<lb/> gerieth in Seelenaͤngſte; bald den Schatten meiner<lb/> unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh<lb/> ſie noch geſtorben war, und eh ich in den Wald<lb/> kam, im Kloſtergarten geweſen, um ſie zu entſuͤh-<lb/> ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu-<lb/> ruͤckgehalten haͤtte. Meine Stunden ſind hier zwi-<lb/> ſchen Gebeth und Andachtsuͤbungen, und Thraͤnen<lb/> bittrer Reue getheilt. Jch kaſteye meinen Leib,<lb/> nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu<lb/> thun — meine Suͤnden kann ich ſelber durch<lb/> nichts abbuͤſſen — ſondern weil ich weiß, daß ich<lb/> nichts als Qual und Schmerzen auf der Welt ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [955/0535]
daß zwey Einſiedler hier im Walde wohnten. Die
Bauren gaben meinem Heinrich haͤufig Almoſen;
aber heraus in den Wald wagte ſich ſelbſt keiner,
wegen der Sage vom erhenkten Kerl, die ſich da-
durch noch mehr beſtaͤrkte, weil mein Heinrich die
Liſt gebraucht hatte, etlichemal, ſowol bey Tag,
als auch bey Nacht im Wald herumzulaufen, und
erbaͤrmlich zu heulen, welches man fuͤr ein Gewin-
ſel des erhenkten Kerls hielt. — Hier leb ich nun
ſeit ungefaͤhr zwoͤlf Jahren, ſo gluͤcklich als es ein
Menſch bey meinem Gemuͤthszuſtand ſeyn kann.
Anfangs hatt ich oft groſſe Beaͤngſtigungen. Bald
ſah ich das Bild meiner ermordeten Mutter, und
gerieth in Seelenaͤngſte; bald den Schatten meiner
unvergeßlichen Geliebten. Zweymal war ich, eh
ſie noch geſtorben war, und eh ich in den Wald
kam, im Kloſtergarten geweſen, um ſie zu entſuͤh-
ren; aber es war, als ob mich Gottes Hand zu-
ruͤckgehalten haͤtte. Meine Stunden ſind hier zwi-
ſchen Gebeth und Andachtsuͤbungen, und Thraͤnen
bittrer Reue getheilt. Jch kaſteye meinen Leib,
nicht als ob ich glaubte, Gott genug damit zu
thun — meine Suͤnden kann ich ſelber durch
nichts abbuͤſſen — ſondern weil ich weiß, daß ich
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