währt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft- los, denn die Todesbothschaft hat mich wie ein Sturm erschüttert, und mich hingeworfen, daß ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge- standen bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht mehr schreiben; meine Augen sind voll Wasser, und mein Herz ist voll Jammers.
Lebe wohl, mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him- mel an, und beth für deinen armen
Siegwart.
Nachdem er diesen Brief auf die Post ge- schickt hatte, befahl er der Aufwärterin, ihm von seinem Hauswirth die Rechnung machen zu lassen. Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreisen wolle? Nein, sagte er, aber wie leicht könnt ich sterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte drauf die Rechnung, und packte seine meisten Sa- chen in den Koffre, ohne selbst zu wissen, warum? Zuweilen ließ er plötzlich alles liegen, setzte sich auf einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens Brief heraus, küßte ihn, las eine halbe Seite, legte ihn dann sorgfältig wieder zusammen, und steckte ihn in seine Brieftasche. Als er eingepackt
waͤhrt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft- los, denn die Todesbothſchaft hat mich wie ein Sturm erſchuͤttert, und mich hingeworfen, daß ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge- ſtanden bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht mehr ſchreiben; meine Augen ſind voll Waſſer, und mein Herz iſt voll Jammers.
Lebe wohl, mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him- mel an, und beth fuͤr deinen armen
Siegwart.
Nachdem er dieſen Brief auf die Poſt ge- ſchickt hatte, befahl er der Aufwaͤrterin, ihm von ſeinem Hauswirth die Rechnung machen zu laſſen. Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreiſen wolle? Nein, ſagte er, aber wie leicht koͤnnt ich ſterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte drauf die Rechnung, und packte ſeine meiſten Sa- chen in den Koffre, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum? Zuweilen ließ er ploͤtzlich alles liegen, ſetzte ſich auf einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens Brief heraus, kuͤßte ihn, las eine halbe Seite, legte ihn dann ſorgfaͤltig wieder zuſammen, und ſteckte ihn in ſeine Brieftaſche. Als er eingepackt
<TEI><text><body><divn="1"><p><floatingText><body><divtype="letter"><p><pbfacs="#f0503"n="923"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
waͤhrt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft-<lb/>
los, denn die Todesbothſchaft hat mich wie ein<lb/>
Sturm erſchuͤttert, und mich hingeworfen, daß<lb/>
ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge-<lb/>ſtanden bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht<lb/>
mehr ſchreiben; meine Augen ſind voll Waſſer,<lb/>
und mein Herz iſt voll Jammers.</p><closer><salute>Lebe wohl,<lb/>
mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang<lb/>
mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him-<lb/>
mel an, und beth fuͤr deinen armen</salute><lb/><signed><hirendition="#et"><hirendition="#fr">Siegwart.</hi></hi></signed></closer></div></body></floatingText></p><lb/><p>Nachdem er dieſen Brief auf die Poſt ge-<lb/>ſchickt hatte, befahl er der Aufwaͤrterin, ihm von<lb/>ſeinem Hauswirth die Rechnung machen zu laſſen.<lb/>
Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreiſen<lb/>
wolle? Nein, ſagte er, aber wie leicht koͤnnt ich<lb/>ſterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte<lb/>
drauf die Rechnung, und packte ſeine meiſten Sa-<lb/>
chen in den Koffre, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum?<lb/>
Zuweilen ließ er ploͤtzlich alles liegen, ſetzte ſich auf<lb/>
einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens<lb/>
Brief heraus, kuͤßte ihn, las eine halbe Seite,<lb/>
legte ihn dann ſorgfaͤltig wieder zuſammen, und<lb/>ſteckte ihn in ſeine Brieftaſche. Als er eingepackt<lb/></p></div></body></text></TEI>
[923/0503]
waͤhrt nicht lange. Noch bin ich matt und kraft-
los, denn die Todesbothſchaft hat mich wie ein
Sturm erſchuͤttert, und mich hingeworfen, daß
ich meine Kraft verlohr. Wenn ich wieder aufge-
ſtanden bin, dann eil ich zu dir. Jch kann nicht
mehr ſchreiben; meine Augen ſind voll Waſſer,
und mein Herz iſt voll Jammers.
Lebe wohl,
mein Geliebter, habe Mitleid mir, und empfang
mich freundlich, wenn ich komme! Sieh den Him-
mel an, und beth fuͤr deinen armen
Siegwart.
Nachdem er dieſen Brief auf die Poſt ge-
ſchickt hatte, befahl er der Aufwaͤrterin, ihm von
ſeinem Hauswirth die Rechnung machen zu laſſen.
Sie weinte, und fragte, ob er dann ganz wegreiſen
wolle? Nein, ſagte er, aber wie leicht koͤnnt ich
ſterben! Sie weinte noch heftiger. Er bezahlte
drauf die Rechnung, und packte ſeine meiſten Sa-
chen in den Koffre, ohne ſelbſt zu wiſſen, warum?
Zuweilen ließ er ploͤtzlich alles liegen, ſetzte ſich auf
einen Stuhl, und weinte; oder zog Marianens
Brief heraus, kuͤßte ihn, las eine halbe Seite,
legte ihn dann ſorgfaͤltig wieder zuſammen, und
ſteckte ihn in ſeine Brieftaſche. Als er eingepackt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 923. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/503>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.