und blickten sich oft mit Thränen der Zärtlichkeit an. Endlich, als die Tante sich umsah, wurde sie un- sern Siegwart gewahr, und hörte auf zu spielen, um ihn zu bewillkommen. Man sprach etwas über die Musik. Fau Held äusserte den Wunsch, daß sie unsern Siegwart, den ihr Mariane auch als Musikus sehr gerühmt hatte, einmal hören möchte! Er versprach, das nächstemal seine Flöte mitzubringen; aber, sagte er zu Marianen, dafür singen sie heut eins. Sie ließ sich nicht lang bit- ten, holte ihre Musikalien, und sang einige ita- liänische und deutsche Arien mit solcher Anmuth, und mit so tiefer Empfindung, als sie im Konzert, wo die Menge von Zuhörern zurückhaltender macht, noch nie gesungen hatte. Drauf setzte man sich ins Grüne, und Siegwart muste, weil er eine angenehme und volle Stimme hatte, Kleists Frühling vorlesen. Die Frauenzimmer hörten mit dem innigsten Antheil und herzlicher Aufmerksam- keit zu, und weinten zuletzt dem Andenken und der Asche des Dichters eine dankbare Thräne; der schönste Lohn, den sich ein edler Sänger nach dem Tode wünschen kann! -- Jch mache mir jeden Frühling, sagte Siegwart, einen sestlichen Tag, und lese erst Kleists Frühling, und dann die Ge-
und blickten ſich oft mit Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit an. Endlich, als die Tante ſich umſah, wurde ſie un- ſern Siegwart gewahr, und hoͤrte auf zu ſpielen, um ihn zu bewillkommen. Man ſprach etwas uͤber die Muſik. Fau Held aͤuſſerte den Wunſch, daß ſie unſern Siegwart, den ihr Mariane auch als Muſikus ſehr geruͤhmt hatte, einmal hoͤren moͤchte! Er verſprach, das naͤchſtemal ſeine Floͤte mitzubringen; aber, ſagte er zu Marianen, dafuͤr ſingen ſie heut eins. Sie ließ ſich nicht lang bit- ten, holte ihre Muſikalien, und ſang einige ita- liaͤniſche und deutſche Arien mit ſolcher Anmuth, und mit ſo tiefer Empfindung, als ſie im Konzert, wo die Menge von Zuhoͤrern zuruͤckhaltender macht, noch nie geſungen hatte. Drauf ſetzte man ſich ins Gruͤne, und Siegwart muſte, weil er eine angenehme und volle Stimme hatte, Kleiſts Fruͤhling vorleſen. Die Frauenzimmer hoͤrten mit dem innigſten Antheil und herzlicher Aufmerkſam- keit zu, und weinten zuletzt dem Andenken und der Aſche des Dichters eine dankbare Thraͤne; der ſchoͤnſte Lohn, den ſich ein edler Saͤnger nach dem Tode wuͤnſchen kann! — Jch mache mir jeden Fruͤhling, ſagte Siegwart, einen ſeſtlichen Tag, und leſe erſt Kleiſts Fruͤhling, und dann die Ge-
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und blickten ſich oft mit Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit an.
Endlich, als die Tante ſich umſah, wurde ſie un-
ſern Siegwart gewahr, und hoͤrte auf zu ſpielen,
um ihn zu bewillkommen. Man ſprach etwas
uͤber die Muſik. Fau Held aͤuſſerte den Wunſch,
daß ſie unſern Siegwart, den ihr Mariane auch
als Muſikus ſehr geruͤhmt hatte, einmal hoͤren
moͤchte! Er verſprach, das naͤchſtemal ſeine Floͤte
mitzubringen; aber, ſagte er zu Marianen, dafuͤr
ſingen ſie heut eins. Sie ließ ſich nicht lang bit-
ten, holte ihre Muſikalien, und ſang einige ita-
liaͤniſche und deutſche Arien mit ſolcher Anmuth,
und mit ſo tiefer Empfindung, als ſie im Konzert,
wo die Menge von Zuhoͤrern zuruͤckhaltender macht,
noch nie geſungen hatte. Drauf ſetzte man ſich
ins Gruͤne, und Siegwart muſte, weil er eine
angenehme und volle Stimme hatte, Kleiſts
Fruͤhling vorleſen. Die Frauenzimmer hoͤrten mit
dem innigſten Antheil und herzlicher Aufmerkſam-
keit zu, und weinten zuletzt dem Andenken und
der Aſche des Dichters eine dankbare Thraͤne;
der ſchoͤnſte Lohn, den ſich ein edler Saͤnger nach dem
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 844. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/424>, abgerufen am 16.07.2024.
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