Geltspel, wie Marianens Stimme, flüstr' ihm in die Ohren. Er hielt ganze lange Gespräche mit ihr, streckte seine Hände nach ihr aus, wachte auf, und sah sich getäuscht. Morgens um acht Uhr stand er, fast müder, wieder auf, als er sich niederge- legt hatte, und gieng auf Kronhelms Zimmer. Dieser lachte ihm sogleich entgegen, und wünschte ihm zu Marianens Liebe Glück. Dann nun, sagte er, wirst du doch nicht mehr ungläubig seyn? Sie hat sich zu viel verrathen. -- Siegwart sagte ihm, er müste mehr beobachtet haben, als er selbst. -- Das hab ich auch, versetzte Kronhelm. Jch bin in dieser Schule länger schon erfahren, und ein Dritter Unpartheyischer sieht immer mehr. Aber, Bruder, du schienest mir so kalt zu seyn. -- Kalt? rief Siegwart voll Verwunderung aus. So muß die Sonne auch kalt seyn! Jch weis gar nicht, wie du so reden kannst? Freylich, da hast du Recht, reden konnt ich wenig; oder, wenns was war, so bracht ich dummes Zeug vor. Da hab ich mich schon gnug drüber geärgert. Jch weis nicht, wenn ich so allein bin, da hätt ich ihr tausend Dinge zu sagen; und kaum steh ich vor ihr, da ists, als ob mir aller Sinn genommen wäre. Gestern auf dem Schlitten hätt ich nun nichts reden kön-
Geltſpel, wie Marianens Stimme, fluͤſtr’ ihm in die Ohren. Er hielt ganze lange Geſpraͤche mit ihr, ſtreckte ſeine Haͤnde nach ihr aus, wachte auf, und ſah ſich getaͤuſcht. Morgens um acht Uhr ſtand er, faſt muͤder, wieder auf, als er ſich niederge- legt hatte, und gieng auf Kronhelms Zimmer. Dieſer lachte ihm ſogleich entgegen, und wuͤnſchte ihm zu Marianens Liebe Gluͤck. Dann nun, ſagte er, wirſt du doch nicht mehr unglaͤubig ſeyn? Sie hat ſich zu viel verrathen. — Siegwart ſagte ihm, er muͤſte mehr beobachtet haben, als er ſelbſt. — Das hab ich auch, verſetzte Kronhelm. Jch bin in dieſer Schule laͤnger ſchon erfahren, und ein Dritter Unpartheyiſcher ſieht immer mehr. Aber, Bruder, du ſchieneſt mir ſo kalt zu ſeyn. — Kalt? rief Siegwart voll Verwunderung aus. So muß die Sonne auch kalt ſeyn! Jch weis gar nicht, wie du ſo reden kannſt? Freylich, da haſt du Recht, reden konnt ich wenig; oder, wenns was war, ſo bracht ich dummes Zeug vor. Da hab ich mich ſchon gnug druͤber geaͤrgert. Jch weis nicht, wenn ich ſo allein bin, da haͤtt ich ihr tauſend Dinge zu ſagen; und kaum ſteh ich vor ihr, da iſts, als ob mir aller Sinn genommen waͤre. Geſtern auf dem Schlitten haͤtt ich nun nichts reden koͤn-
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Geltſpel, wie Marianens Stimme, fluͤſtr’ ihm in
die Ohren. Er hielt ganze lange Geſpraͤche mit
ihr, ſtreckte ſeine Haͤnde nach ihr aus, wachte auf,
und ſah ſich getaͤuſcht. Morgens um acht Uhr ſtand
er, faſt muͤder, wieder auf, als er ſich niederge-
legt hatte, und gieng auf Kronhelms Zimmer.
Dieſer lachte ihm ſogleich entgegen, und wuͤnſchte
ihm zu Marianens Liebe Gluͤck. Dann nun, ſagte
er, wirſt du doch nicht mehr unglaͤubig ſeyn? Sie
hat ſich zu viel verrathen. — Siegwart ſagte ihm,
er muͤſte mehr beobachtet haben, als er ſelbſt. —
Das hab ich auch, verſetzte Kronhelm. Jch bin
in dieſer Schule laͤnger ſchon erfahren, und ein
Dritter Unpartheyiſcher ſieht immer mehr. Aber,
Bruder, du ſchieneſt mir ſo kalt zu ſeyn. — Kalt?
rief Siegwart voll Verwunderung aus. So muß
die Sonne auch kalt ſeyn! Jch weis gar nicht,
wie du ſo reden kannſt? Freylich, da haſt du Recht,
reden konnt ich wenig; oder, wenns was war, ſo
bracht ich dummes Zeug vor. Da hab ich mich
ſchon gnug druͤber geaͤrgert. Jch weis nicht, wenn
ich ſo allein bin, da haͤtt ich ihr tauſend Dinge
zu ſagen; und kaum ſteh ich vor ihr, da iſts, als
ob mir aller Sinn genommen waͤre. Geſtern
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/257>, abgerufen am 16.02.2025.
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