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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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gehn, aber er konnte nicht genau unterscheiden, ob es
sie sey, oder ihre Mutter? Er war halb freudig,
und bald traurig; bald fürchtete er alles Traurige,
und hoffte dann auf Einmal wieder nichts als Gu-
tes. So stand er, in süsser Wehmuth, und voll
schwärmerischer Entwürfe eine ganze Stunde da.
Endlich hörte er das Klavier anstimmen, riß das
Fenster eilig auf, und lauschte, daß er kaum zu ath-
men wagte. Erst spielte Mariane eine ernsthafte,
langsam gehende Phantasie; dann eine schmelzend
zärtliche Sonate, und endlich einen feyerlichandäch-
tigen Choral, und sang dazu. Siegwart kam über
den empfindungsvollen Ton ihrer Silberstimme ganz
ausser sich, daß er kaum mehr wuste, wo er war.
Er hatte tausend Empfindungen, deren er sich kaum
selbst bewust war, und die sich erst nach und nach
entwickelten, als sie lange schon schwieg. Er lag
noch lang im Fenster, als ob er ihr zuhorchte, ob
sie gleich schon das Licht ausgelöscht hatte. Endlich
ward er wehmüthig, setzte sich an den Tisch, und
schrieb, als er Dinte und Papier vor sich sah, folgen-
des Gedicht nieder:



gehn, aber er konnte nicht genau unterſcheiden, ob es
ſie ſey, oder ihre Mutter? Er war halb freudig,
und bald traurig; bald fuͤrchtete er alles Traurige,
und hoffte dann auf Einmal wieder nichts als Gu-
tes. So ſtand er, in ſuͤſſer Wehmuth, und voll
ſchwaͤrmeriſcher Entwuͤrfe eine ganze Stunde da.
Endlich hoͤrte er das Klavier anſtimmen, riß das
Fenſter eilig auf, und lauſchte, daß er kaum zu ath-
men wagte. Erſt ſpielte Mariane eine ernſthafte,
langſam gehende Phantaſie; dann eine ſchmelzend
zaͤrtliche Sonate, und endlich einen feyerlichandaͤch-
tigen Choral, und ſang dazu. Siegwart kam uͤber
den empfindungsvollen Ton ihrer Silberſtimme ganz
auſſer ſich, daß er kaum mehr wuſte, wo er war.
Er hatte tauſend Empfindungen, deren er ſich kaum
ſelbſt bewuſt war, und die ſich erſt nach und nach
entwickelten, als ſie lange ſchon ſchwieg. Er lag
noch lang im Fenſter, als ob er ihr zuhorchte, ob
ſie gleich ſchon das Licht ausgeloͤſcht hatte. Endlich
ward er wehmuͤthig, ſetzte ſich an den Tiſch, und
ſchrieb, als er Dinte und Papier vor ſich ſah, folgen-
des Gedicht nieder:

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[640/0220] gehn, aber er konnte nicht genau unterſcheiden, ob es ſie ſey, oder ihre Mutter? Er war halb freudig, und bald traurig; bald fuͤrchtete er alles Traurige, und hoffte dann auf Einmal wieder nichts als Gu- tes. So ſtand er, in ſuͤſſer Wehmuth, und voll ſchwaͤrmeriſcher Entwuͤrfe eine ganze Stunde da. Endlich hoͤrte er das Klavier anſtimmen, riß das Fenſter eilig auf, und lauſchte, daß er kaum zu ath- men wagte. Erſt ſpielte Mariane eine ernſthafte, langſam gehende Phantaſie; dann eine ſchmelzend zaͤrtliche Sonate, und endlich einen feyerlichandaͤch- tigen Choral, und ſang dazu. Siegwart kam uͤber den empfindungsvollen Ton ihrer Silberſtimme ganz auſſer ſich, daß er kaum mehr wuſte, wo er war. Er hatte tauſend Empfindungen, deren er ſich kaum ſelbſt bewuſt war, und die ſich erſt nach und nach entwickelten, als ſie lange ſchon ſchwieg. Er lag noch lang im Fenſter, als ob er ihr zuhorchte, ob ſie gleich ſchon das Licht ausgeloͤſcht hatte. Endlich ward er wehmuͤthig, ſetzte ſich an den Tiſch, und ſchrieb, als er Dinte und Papier vor ſich ſah, folgen- des Gedicht nieder:

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/220>, abgerufen am 24.11.2024.