Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.Aber sie war doch für mich zu heilig; ich sah zu ihr hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wünschte nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch kriegte sie selten zu Gesicht. Einmal sah ich sie, an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er- stenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab der meinen Muth und Flügel. Es war mir, als ob ein Stral von göttlicher Barmherzigkeit sich in mein Herz herab senkte, und es stärkte. Mir ward so wohl, daß ich weinen konnte. Dieser Augenblick bleibt mir unvergeßlich; er ist der Anfang meines wahren Glücks. Jch ward nun wirklich fromm, denn ich handelte nach Grundsätzen. Zu Haus warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thränen. Das Gefühl der göttlichen Begnadigung goß sich wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi- bel, und ganz anders, als im Kloster ehmals. Jhre Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter- drückte, oder mässigte meinen wilden, unbändigen Karakter; obgleich noch -- das weis der liebe Gott -- unendlich viel davon zurück blieb; denn oft will es wieder in mir aufbrausen, und ich habe gnug mit mir zu kämpfen. Mit meiner Besserung Aber ſie war doch fuͤr mich zu heilig; ich ſah zu ihr hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wuͤnſchte nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch kriegte ſie ſelten zu Geſicht. Einmal ſah ich ſie, an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er- ſtenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab der meinen Muth und Fluͤgel. Es war mir, als ob ein Stral von goͤttlicher Barmherzigkeit ſich in mein Herz herab ſenkte, und es ſtaͤrkte. Mir ward ſo wohl, daß ich weinen konnte. Dieſer Augenblick bleibt mir unvergeßlich; er iſt der Anfang meines wahren Gluͤcks. Jch ward nun wirklich fromm, denn ich handelte nach Grundſaͤtzen. Zu Haus warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thraͤnen. Das Gefuͤhl der goͤttlichen Begnadigung goß ſich wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi- bel, und ganz anders, als im Kloſter ehmals. Jhre Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter- druͤckte, oder maͤſſigte meinen wilden, unbaͤndigen Karakter; obgleich noch — das weis der liebe Gott — unendlich viel davon zuruͤck blieb; denn oft will es wieder in mir aufbrauſen, und ich habe gnug mit mir zu kaͤmpfen. Mit meiner Beſſerung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0215" n="635"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> Aber ſie war doch fuͤr mich zu heilig; ich ſah zu ihr<lb/> hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wuͤnſchte<lb/> nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch<lb/> kriegte ſie ſelten zu Geſicht. Einmal ſah ich ſie,<lb/> an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz<lb/> betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er-<lb/> ſtenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott<lb/> um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab<lb/> der meinen Muth und Fluͤgel. Es war mir, als<lb/> ob ein Stral von goͤttlicher Barmherzigkeit ſich in<lb/> mein Herz herab ſenkte, und es ſtaͤrkte. Mir ward<lb/> ſo wohl, daß ich weinen konnte. Dieſer Augenblick<lb/> bleibt mir unvergeßlich; er iſt der Anfang meines<lb/> wahren Gluͤcks. Jch ward nun wirklich fromm,<lb/> denn ich handelte nach Grundſaͤtzen. Zu Haus<lb/> warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thraͤnen.<lb/> Das Gefuͤhl der goͤttlichen Begnadigung goß ſich<lb/> wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi-<lb/> bel, und ganz anders, als im Kloſter ehmals. Jhre<lb/> Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter-<lb/> druͤckte, oder maͤſſigte meinen wilden, unbaͤndigen<lb/> Karakter; obgleich noch — das weis der liebe<lb/> Gott — unendlich viel davon zuruͤck blieb; denn<lb/> oft will es wieder in mir aufbrauſen, und ich habe<lb/> gnug mit mir zu kaͤmpfen. Mit meiner Beſſerung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [635/0215]
Aber ſie war doch fuͤr mich zu heilig; ich ſah zu ihr
hinauf, wie zu der Mutter Gottes, und wuͤnſchte
nichts, als einen einzigen Gnadenblick von ihr. Jch
kriegte ſie ſelten zu Geſicht. Einmal ſah ich ſie,
an Allerheiligen, in der Kirche. Jhr Aug und Herz
betete voll Andacht. Nun wagt ichs auch zum er-
ſtenmal wieder, meine Augen aufzuheben, und Gott
um Erbarmung anzuflehen. Jhre Andacht gab
der meinen Muth und Fluͤgel. Es war mir, als
ob ein Stral von goͤttlicher Barmherzigkeit ſich in
mein Herz herab ſenkte, und es ſtaͤrkte. Mir ward
ſo wohl, daß ich weinen konnte. Dieſer Augenblick
bleibt mir unvergeßlich; er iſt der Anfang meines
wahren Gluͤcks. Jch ward nun wirklich fromm,
denn ich handelte nach Grundſaͤtzen. Zu Haus
warf ich mich nun nieder, und zerfloß in Thraͤnen.
Das Gefuͤhl der goͤttlichen Begnadigung goß ſich
wieder durch mein Herz; ich las auch in der Bi-
bel, und ganz anders, als im Kloſter ehmals. Jhre
Kraft, und der heilige Gedank an Marianen unter-
druͤckte, oder maͤſſigte meinen wilden, unbaͤndigen
Karakter; obgleich noch — das weis der liebe
Gott — unendlich viel davon zuruͤck blieb; denn
oft will es wieder in mir aufbrauſen, und ich habe
gnug mit mir zu kaͤmpfen. Mit meiner Beſſerung
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