che sah er sie auch wieder, und erhöhte seine An- dacht durch die ihrige.
Den nächsten Mittewoch eilte er wieder ins Kon- zert. Sie sang bald zu Anfang eine Arie; er stellte sich, fern von ihr, in die andere Ecke des Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hören. Seine ganze Seele war ausser sich, sobald sie an- stimmte. Eine solche Empfindung hatte er in sei- nem Leben nicht gehabt. Jch kann sie nicht be- schreiben. Mitten in dem schmelzenden Gesang machte ihr Bruder, der ihr auf dem Flügel akkom- pagnirte, solche Fehler im Spielen, daß sie plötzlich abbrach, vom Pult weggieng, und sich unwillig auf ihren Stuhl niedersetzte. Unserm Siegwart wars, als ob er aus dem hellsten Sonnenschein mit Einem- mal in die tiefste schauervollste Gruft herabstürzte. Der Bruder sprang hastig auf, lief zu ihr hin, verzerrte sein Gesicht, und machte ihr die kränkendsten Vorwürfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch nie hatte sie unserm Siegwart so gefallen; auf den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung, und hätt ihn in dem Augenblick vor die Stirne schlagen können. Endlich kam der Hofrath und seine Frau, und besänftigten den Bruder; aber Mariane ließ sich nicht mehr bewegen, fort zu sin-
che ſah er ſie auch wieder, und erhoͤhte ſeine An- dacht durch die ihrige.
Den naͤchſten Mittewoch eilte er wieder ins Kon- zert. Sie ſang bald zu Anfang eine Arie; er ſtellte ſich, fern von ihr, in die andere Ecke des Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hoͤren. Seine ganze Seele war auſſer ſich, ſobald ſie an- ſtimmte. Eine ſolche Empfindung hatte er in ſei- nem Leben nicht gehabt. Jch kann ſie nicht be- ſchreiben. Mitten in dem ſchmelzenden Geſang machte ihr Bruder, der ihr auf dem Fluͤgel akkom- pagnirte, ſolche Fehler im Spielen, daß ſie ploͤtzlich abbrach, vom Pult weggieng, und ſich unwillig auf ihren Stuhl niederſetzte. Unſerm Siegwart wars, als ob er aus dem hellſten Sonnenſchein mit Einem- mal in die tiefſte ſchauervollſte Gruft herabſtuͤrzte. Der Bruder ſprang haſtig auf, lief zu ihr hin, verzerrte ſein Geſicht, und machte ihr die kraͤnkendſten Vorwuͤrfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch nie hatte ſie unſerm Siegwart ſo gefallen; auf den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung, und haͤtt ihn in dem Augenblick vor die Stirne ſchlagen koͤnnen. Endlich kam der Hofrath und ſeine Frau, und beſaͤnftigten den Bruder; aber Mariane ließ ſich nicht mehr bewegen, fort zu ſin-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0193"n="613"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
che ſah er ſie auch wieder, und erhoͤhte ſeine An-<lb/>
dacht durch die ihrige.</p><lb/><p>Den naͤchſten Mittewoch eilte er wieder ins Kon-<lb/>
zert. Sie ſang bald zu Anfang eine Arie; er<lb/>ſtellte ſich, fern von ihr, in die andere Ecke des<lb/>
Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hoͤren.<lb/>
Seine ganze Seele war auſſer ſich, ſobald ſie an-<lb/>ſtimmte. Eine ſolche Empfindung hatte er in ſei-<lb/>
nem Leben nicht gehabt. Jch kann ſie nicht be-<lb/>ſchreiben. Mitten in dem ſchmelzenden Geſang<lb/>
machte ihr Bruder, der ihr auf dem Fluͤgel akkom-<lb/>
pagnirte, ſolche Fehler im Spielen, daß ſie ploͤtzlich<lb/>
abbrach, vom Pult weggieng, und ſich unwillig auf<lb/>
ihren Stuhl niederſetzte. Unſerm Siegwart wars,<lb/>
als ob er aus dem hellſten Sonnenſchein mit Einem-<lb/>
mal in die tiefſte ſchauervollſte Gruft herabſtuͤrzte.<lb/>
Der Bruder ſprang haſtig auf, lief zu ihr hin,<lb/>
verzerrte ſein Geſicht, und machte ihr die kraͤnkendſten<lb/>
Vorwuͤrfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch<lb/>
nie hatte ſie unſerm Siegwart ſo gefallen; auf<lb/>
den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung,<lb/>
und haͤtt ihn in dem Augenblick vor die Stirne<lb/>ſchlagen koͤnnen. Endlich kam der Hofrath und<lb/>ſeine Frau, und beſaͤnftigten den Bruder; aber<lb/>
Mariane ließ ſich nicht mehr bewegen, fort zu ſin-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[613/0193]
che ſah er ſie auch wieder, und erhoͤhte ſeine An-
dacht durch die ihrige.
Den naͤchſten Mittewoch eilte er wieder ins Kon-
zert. Sie ſang bald zu Anfang eine Arie; er
ſtellte ſich, fern von ihr, in die andere Ecke des
Saals, um unbemerkt ihren Engelston zu hoͤren.
Seine ganze Seele war auſſer ſich, ſobald ſie an-
ſtimmte. Eine ſolche Empfindung hatte er in ſei-
nem Leben nicht gehabt. Jch kann ſie nicht be-
ſchreiben. Mitten in dem ſchmelzenden Geſang
machte ihr Bruder, der ihr auf dem Fluͤgel akkom-
pagnirte, ſolche Fehler im Spielen, daß ſie ploͤtzlich
abbrach, vom Pult weggieng, und ſich unwillig auf
ihren Stuhl niederſetzte. Unſerm Siegwart wars,
als ob er aus dem hellſten Sonnenſchein mit Einem-
mal in die tiefſte ſchauervollſte Gruft herabſtuͤrzte.
Der Bruder ſprang haſtig auf, lief zu ihr hin,
verzerrte ſein Geſicht, und machte ihr die kraͤnkendſten
Vorwuͤrfe. Sie ward roth, und unwillig. Noch
nie hatte ſie unſerm Siegwart ſo gefallen; auf
den Bruder warf er einen Blick voll Verachtung,
und haͤtt ihn in dem Augenblick vor die Stirne
ſchlagen koͤnnen. Endlich kam der Hofrath und
ſeine Frau, und beſaͤnftigten den Bruder; aber
Mariane ließ ſich nicht mehr bewegen, fort zu ſin-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 613. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/193>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.