Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.lich weich; oft flossen ihm Thränen aus den Au- gen, ohne daß er wuste, warum? Er hielts für eine Sehnsucht nach dem Kloster, und für einen göttlichen Aufruf, sich zu diesem Stande recht vor- zubereiten; daher studierte er auch unaufhörlich, oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn sein Herz recht weich, und er allein war, so erhub sich seine Seele zu hoher Andacht; er betete mit grosser Jnbrunst, und heiligte sich Gott ganz. Das Le- sen der Bibel machte ihn täglich vollkommener und besser, und jeder grossen Handlung sähig. Seine Liebe zur Tugend, und seine Gewissenhaftigkeit ward beynahe schwärmerisch. Ein paarmal traf er von ungefähr bey Gutfried andre Studenten an, besonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey und leichtsinnig sprachen. Dieß that ihm so weh, und brachte ihn so auf, daß er ganz freymüthig sein Misfallen drüber an den Tag legte, und fast in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und verderbte Wesen, das er unter den Studenten wahrnahm, machte ihn beynah zum Einsiedler und zum Menschenfeind, so daß er bey keinem Men- schen gern war, als bey Kronhelm und Gutfried. Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch, worinn er fleissig las, erhöhten seine Schwärmerey lich weich; oft floſſen ihm Thraͤnen aus den Au- gen, ohne daß er wuſte, warum? Er hielts fuͤr eine Sehnſucht nach dem Kloſter, und fuͤr einen goͤttlichen Aufruf, ſich zu dieſem Stande recht vor- zubereiten; daher ſtudierte er auch unaufhoͤrlich, oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn ſein Herz recht weich, und er allein war, ſo erhub ſich ſeine Seele zu hoher Andacht; er betete mit groſſer Jnbrunſt, und heiligte ſich Gott ganz. Das Le- ſen der Bibel machte ihn taͤglich vollkommener und beſſer, und jeder groſſen Handlung ſaͤhig. Seine Liebe zur Tugend, und ſeine Gewiſſenhaftigkeit ward beynahe ſchwaͤrmeriſch. Ein paarmal traf er von ungefaͤhr bey Gutfried andre Studenten an, beſonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey und leichtſinnig ſprachen. Dieß that ihm ſo weh, und brachte ihn ſo auf, daß er ganz freymuͤthig ſein Misfallen druͤber an den Tag legte, und faſt in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und verderbte Weſen, das er unter den Studenten wahrnahm, machte ihn beynah zum Einſiedler und zum Menſchenfeind, ſo daß er bey keinem Men- ſchen gern war, als bey Kronhelm und Gutfried. Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch, worinn er fleiſſig las, erhoͤhten ſeine Schwaͤrmerey <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0142" n="562"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> lich weich; oft floſſen ihm Thraͤnen aus den Au-<lb/> gen, ohne daß er wuſte, warum? Er hielts fuͤr<lb/> eine Sehnſucht nach dem Kloſter, und fuͤr einen<lb/> goͤttlichen Aufruf, ſich zu dieſem Stande recht vor-<lb/> zubereiten; daher ſtudierte er auch unaufhoͤrlich,<lb/> oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn ſein Herz<lb/> recht weich, und er allein war, ſo erhub ſich ſeine<lb/> Seele zu hoher Andacht; er betete mit groſſer<lb/> Jnbrunſt, und heiligte ſich Gott ganz. Das Le-<lb/> ſen der Bibel machte ihn taͤglich vollkommener und<lb/> beſſer, und jeder groſſen Handlung ſaͤhig. Seine<lb/> Liebe zur Tugend, und ſeine Gewiſſenhaftigkeit<lb/> ward beynahe ſchwaͤrmeriſch. Ein paarmal traf er<lb/> von ungefaͤhr bey Gutfried andre Studenten an,<lb/> beſonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey<lb/> und leichtſinnig ſprachen. Dieß that ihm ſo weh,<lb/> und brachte ihn ſo auf, daß er ganz freymuͤthig<lb/> ſein Misfallen druͤber an den Tag legte, und faſt<lb/> in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und<lb/> verderbte Weſen, das er unter den Studenten<lb/> wahrnahm, machte ihn beynah zum Einſiedler und<lb/> zum Menſchenfeind, ſo daß er bey keinem Men-<lb/> ſchen gern war, als bey <hi rendition="#fr">Kronhelm</hi> und <hi rendition="#fr">Gutfried.</hi><lb/> Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch,<lb/> worinn er fleiſſig las, erhoͤhten ſeine Schwaͤrmerey<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [562/0142]
lich weich; oft floſſen ihm Thraͤnen aus den Au-
gen, ohne daß er wuſte, warum? Er hielts fuͤr
eine Sehnſucht nach dem Kloſter, und fuͤr einen
goͤttlichen Aufruf, ſich zu dieſem Stande recht vor-
zubereiten; daher ſtudierte er auch unaufhoͤrlich,
oft bis in die tiefe Nacht hinein. Wenn ſein Herz
recht weich, und er allein war, ſo erhub ſich ſeine
Seele zu hoher Andacht; er betete mit groſſer
Jnbrunſt, und heiligte ſich Gott ganz. Das Le-
ſen der Bibel machte ihn taͤglich vollkommener und
beſſer, und jeder groſſen Handlung ſaͤhig. Seine
Liebe zur Tugend, und ſeine Gewiſſenhaftigkeit
ward beynahe ſchwaͤrmeriſch. Ein paarmal traf er
von ungefaͤhr bey Gutfried andre Studenten an,
beſonders Boling und Kirner, welche ziemlich frey
und leichtſinnig ſprachen. Dieß that ihm ſo weh,
und brachte ihn ſo auf, daß er ganz freymuͤthig
ſein Misfallen druͤber an den Tag legte, und faſt
in Ungelegenheit und Streit kam. Das rohe und
verderbte Weſen, das er unter den Studenten
wahrnahm, machte ihn beynah zum Einſiedler und
zum Menſchenfeind, ſo daß er bey keinem Men-
ſchen gern war, als bey Kronhelm und Gutfried.
Das Andenken an Sophien, und ihr Tagebuch,
worinn er fleiſſig las, erhoͤhten ſeine Schwaͤrmerey
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