Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



Siegwart schieben; aber bey einer genauern Un-
tersuchung, und als man ihm mit einer noch en-
gern Gefangenschaft drohte, gestand er ein, wo er
gewesen sey, und was er da gemacht habe? Seine
Vergehen waren so, daß er, nach den Schulgese-
tzen, verstossen werden mußte. Die Strase ward
ihm auch angekündigt, und ein paar Famuli wur-
den so gleich hingeschickt, seine Sachen auf dem Zim-
mer einzupacken und wegzubringen. Jndessen leg-
te sich der Heuchler aufs Bitten, und suchte alle
mögliche Kunstgriffe hervor, seine Lehrer zum Mit-
leiden zu bewegen. Er warf sich vor ihnen auf
die Knie nieder, weinte bitterlich, und sagte, er
könne nicht eher aufstehen, als bis er wieder ange-
nommen werde. Auf ihren Ausspruch komme es
an, ob er sein Leben durch glücklich, oder elend seyn
solle? Er sehe nichts vor sich, wenn man ihn ver-
stosse, als ein Leben voller Jammer, denn er müsse
nothwendig Soldat werden. Seine Aeltern seyen
arm, und können sich seiner auf keine Art anneh-
men. Dabey sey sein Vater so streng, daß er ihm
nicht unter die Augen treten dürfe. Er würde die
Thüre vor ihm zuschliessen, und ihn seinem Unglück
überlassen. Ob man einen armen reuigen Men-
schen ganz ins Elend stürzen wolle? Sein Verge-



Siegwart ſchieben; aber bey einer genauern Un-
terſuchung, und als man ihm mit einer noch en-
gern Gefangenſchaft drohte, geſtand er ein, wo er
geweſen ſey, und was er da gemacht habe? Seine
Vergehen waren ſo, daß er, nach den Schulgeſe-
tzen, verſtoſſen werden mußte. Die Straſe ward
ihm auch angekuͤndigt, und ein paar Famuli wur-
den ſo gleich hingeſchickt, ſeine Sachen auf dem Zim-
mer einzupacken und wegzubringen. Jndeſſen leg-
te ſich der Heuchler aufs Bitten, und ſuchte alle
moͤgliche Kunſtgriffe hervor, ſeine Lehrer zum Mit-
leiden zu bewegen. Er warf ſich vor ihnen auf
die Knie nieder, weinte bitterlich, und ſagte, er
koͤnne nicht eher aufſtehen, als bis er wieder ange-
nommen werde. Auf ihren Ausſpruch komme es
an, ob er ſein Leben durch gluͤcklich, oder elend ſeyn
ſolle? Er ſehe nichts vor ſich, wenn man ihn ver-
ſtoſſe, als ein Leben voller Jammer, denn er muͤſſe
nothwendig Soldat werden. Seine Aeltern ſeyen
arm, und koͤnnen ſich ſeiner auf keine Art anneh-
men. Dabey ſey ſein Vater ſo ſtreng, daß er ihm
nicht unter die Augen treten duͤrfe. Er wuͤrde die
Thuͤre vor ihm zuſchlieſſen, und ihn ſeinem Ungluͤck
uͤberlaſſen. Ob man einen armen reuigen Men-
ſchen ganz ins Elend ſtuͤrzen wolle? Sein Verge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0205" n="201"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#fr">Siegwart</hi> &#x017F;chieben; aber bey einer genauern Un-<lb/>
ter&#x017F;uchung, und als man ihm mit einer noch en-<lb/>
gern Gefangen&#x017F;chaft drohte, ge&#x017F;tand er ein, wo er<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;ey, und was er da gemacht habe? Seine<lb/>
Vergehen waren &#x017F;o, daß er, nach den Schulge&#x017F;e-<lb/>
tzen, ver&#x017F;to&#x017F;&#x017F;en werden mußte. Die Stra&#x017F;e ward<lb/>
ihm auch angeku&#x0364;ndigt, und ein paar Famuli wur-<lb/>
den &#x017F;o gleich hinge&#x017F;chickt, &#x017F;eine Sachen auf dem Zim-<lb/>
mer einzupacken und wegzubringen. Jnde&#x017F;&#x017F;en leg-<lb/>
te &#x017F;ich der Heuchler aufs Bitten, und &#x017F;uchte alle<lb/>
mo&#x0364;gliche Kun&#x017F;tgriffe hervor, &#x017F;eine Lehrer zum Mit-<lb/>
leiden zu bewegen. Er warf &#x017F;ich vor ihnen auf<lb/>
die Knie nieder, weinte bitterlich, und &#x017F;agte, er<lb/>
ko&#x0364;nne nicht eher auf&#x017F;tehen, als bis er wieder ange-<lb/>
nommen werde. Auf ihren Aus&#x017F;pruch komme es<lb/>
an, ob er &#x017F;ein Leben durch glu&#x0364;cklich, oder elend &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;olle? Er &#x017F;ehe nichts vor &#x017F;ich, wenn man ihn ver-<lb/>
&#x017F;to&#x017F;&#x017F;e, als ein Leben voller Jammer, denn er mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nothwendig Soldat werden. Seine Aeltern &#x017F;eyen<lb/>
arm, und ko&#x0364;nnen &#x017F;ich &#x017F;einer auf keine Art anneh-<lb/>
men. Dabey &#x017F;ey &#x017F;ein Vater &#x017F;o &#x017F;treng, daß er ihm<lb/>
nicht unter die Augen treten du&#x0364;rfe. Er wu&#x0364;rde die<lb/>
Thu&#x0364;re vor ihm zu&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, und ihn &#x017F;einem Unglu&#x0364;ck<lb/>
u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en. Ob man einen armen reuigen Men-<lb/>
&#x017F;chen ganz ins Elend &#x017F;tu&#x0364;rzen wolle? Sein Verge-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0205] Siegwart ſchieben; aber bey einer genauern Un- terſuchung, und als man ihm mit einer noch en- gern Gefangenſchaft drohte, geſtand er ein, wo er geweſen ſey, und was er da gemacht habe? Seine Vergehen waren ſo, daß er, nach den Schulgeſe- tzen, verſtoſſen werden mußte. Die Straſe ward ihm auch angekuͤndigt, und ein paar Famuli wur- den ſo gleich hingeſchickt, ſeine Sachen auf dem Zim- mer einzupacken und wegzubringen. Jndeſſen leg- te ſich der Heuchler aufs Bitten, und ſuchte alle moͤgliche Kunſtgriffe hervor, ſeine Lehrer zum Mit- leiden zu bewegen. Er warf ſich vor ihnen auf die Knie nieder, weinte bitterlich, und ſagte, er koͤnne nicht eher aufſtehen, als bis er wieder ange- nommen werde. Auf ihren Ausſpruch komme es an, ob er ſein Leben durch gluͤcklich, oder elend ſeyn ſolle? Er ſehe nichts vor ſich, wenn man ihn ver- ſtoſſe, als ein Leben voller Jammer, denn er muͤſſe nothwendig Soldat werden. Seine Aeltern ſeyen arm, und koͤnnen ſich ſeiner auf keine Art anneh- men. Dabey ſey ſein Vater ſo ſtreng, daß er ihm nicht unter die Augen treten duͤrfe. Er wuͤrde die Thuͤre vor ihm zuſchlieſſen, und ihn ſeinem Ungluͤck uͤberlaſſen. Ob man einen armen reuigen Men- ſchen ganz ins Elend ſtuͤrzen wolle? Sein Verge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/205
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/205>, abgerufen am 03.05.2024.