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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Zelle sitzen, wo der Mond und die Sonne nicht
hinscheint; soll ewig Ave Maria, und Rosenkrän-
ze beten; Psalmen singen, und im Brevier lesen;
soll mit alten mürrischen Leuten umgehen, die an
der Welt, die für dich so viel schönes hat, keine
Freude mehr finden; soll sich einem eigensinnigen
Prälaten unterwerfen, und thun, was dem einfällt.
Nein, Bruder, das kann unmöglich für dich seyn!
Bedenk nur selber, wie dir zu Muthe ist, wenn du
einmal bey schlimmem Wetter, oder wenn du
krank bist, ein paar Tage lang zu Hause sitzen
must! Gleich fehlt dir's überall, bist verdrüßlich
und hast an nichts keine Freude mehr. Was will
nun das sagen, gegen eine ewige Gefangenschaft,
die erst mit dem Tod ein Ende nimmt? Jch bitte
dich, Bruder, um der Mutter Gottes, und um
aller Heiligen willen, überleg's wohl! Jch kann dir
nichts einreden; aber rathen will ich dir, und muß
ich dir. Du weist, was ich auf dich halte. Nach
dem Papa hab ich keinen Menschen auf der Welt
so lieb, wie dich. Und ich sollte dich unglücklich se-
hen, da ichs doch hätte verhindern können, -- Sieh,
wenn du geistlich werden willst, weil du glaubst
so am meisten Gutes thun zu können, warum
wirst du nicht ein Weltgeistlicher, wie der alte Pfarr,



Zelle ſitzen, wo der Mond und die Sonne nicht
hinſcheint; ſoll ewig Ave Maria, und Roſenkraͤn-
ze beten; Pſalmen ſingen, und im Brevier leſen;
ſoll mit alten muͤrriſchen Leuten umgehen, die an
der Welt, die fuͤr dich ſo viel ſchoͤnes hat, keine
Freude mehr finden; ſoll ſich einem eigenſinnigen
Praͤlaten unterwerfen, und thun, was dem einfaͤllt.
Nein, Bruder, das kann unmoͤglich fuͤr dich ſeyn!
Bedenk nur ſelber, wie dir zu Muthe iſt, wenn du
einmal bey ſchlimmem Wetter, oder wenn du
krank biſt, ein paar Tage lang zu Hauſe ſitzen
muſt! Gleich fehlt dir’s uͤberall, biſt verdruͤßlich
und haſt an nichts keine Freude mehr. Was will
nun das ſagen, gegen eine ewige Gefangenſchaft,
die erſt mit dem Tod ein Ende nimmt? Jch bitte
dich, Bruder, um der Mutter Gottes, und um
aller Heiligen willen, uͤberleg’s wohl! Jch kann dir
nichts einreden; aber rathen will ich dir, und muß
ich dir. Du weiſt, was ich auf dich halte. Nach
dem Papa hab ich keinen Menſchen auf der Welt
ſo lieb, wie dich. Und ich ſollte dich ungluͤcklich ſe-
hen, da ichs doch haͤtte verhindern koͤnnen, — Sieh,
wenn du geiſtlich werden willſt, weil du glaubſt
ſo am meiſten Gutes thun zu koͤnnen, warum
wirſt du nicht ein Weltgeiſtlicher, wie der alte Pfarr,

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[141/0145] Zelle ſitzen, wo der Mond und die Sonne nicht hinſcheint; ſoll ewig Ave Maria, und Roſenkraͤn- ze beten; Pſalmen ſingen, und im Brevier leſen; ſoll mit alten muͤrriſchen Leuten umgehen, die an der Welt, die fuͤr dich ſo viel ſchoͤnes hat, keine Freude mehr finden; ſoll ſich einem eigenſinnigen Praͤlaten unterwerfen, und thun, was dem einfaͤllt. Nein, Bruder, das kann unmoͤglich fuͤr dich ſeyn! Bedenk nur ſelber, wie dir zu Muthe iſt, wenn du einmal bey ſchlimmem Wetter, oder wenn du krank biſt, ein paar Tage lang zu Hauſe ſitzen muſt! Gleich fehlt dir’s uͤberall, biſt verdruͤßlich und haſt an nichts keine Freude mehr. Was will nun das ſagen, gegen eine ewige Gefangenſchaft, die erſt mit dem Tod ein Ende nimmt? Jch bitte dich, Bruder, um der Mutter Gottes, und um aller Heiligen willen, uͤberleg’s wohl! Jch kann dir nichts einreden; aber rathen will ich dir, und muß ich dir. Du weiſt, was ich auf dich halte. Nach dem Papa hab ich keinen Menſchen auf der Welt ſo lieb, wie dich. Und ich ſollte dich ungluͤcklich ſe- hen, da ichs doch haͤtte verhindern koͤnnen, — Sieh, wenn du geiſtlich werden willſt, weil du glaubſt ſo am meiſten Gutes thun zu koͤnnen, warum wirſt du nicht ein Weltgeiſtlicher, wie der alte Pfarr,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/145>, abgerufen am 22.11.2024.