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Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29.

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Ueber Frauenemancipation.
erörtern, würde all den Raum in Anspruch nehmen, den wir für den
ganzen Gegenstand zur Verfügung haben ). Aber wenn diejenigen,
welche versichern, daß der angemessene Wirkungskreis der Frauen
die Häuslichkeit sei, damit sagen wollen, daß sie keine Fähigkeiten für
irgend einen anderen gezeigt haben, dann beweist diese Behauptung
große Unkenntniß des Lebens und der Geschichte. Die Frauen
haben Tauglichkeit für die höchsten Stellungen der Gesellschaft
genau in dem Verhältniß bewiesen, als sie dazu zugelassen wurden.
Durch eine seltsame Jnconsequenz werden sie, die nicht zur nied-
rigsten Würde im Staate wählbar sind, in einigen Ländern zur
höchsten, zur königlichen Würde zugelassen; und wenn es einen Be-
ruf giebt, zu dem sie entschiedene Befähigung gezeigt haben, so ist
es der der Herrscherin. Wir brauchen hier nicht auf die alte Ge-
schichte zurückzugreifen; wir sehen uns vergebens nach tüchtigeren
oder standhafteren Herrschern um als Elisabeth, Jsabella von
Castilien, Maria Theresia, Katharina von Rußland, als Blanche,
die Mutter von Ludwig IX. von Frankreich und Jeanne d'Albret,
die Mutter von Heinrich IV. Die Ueberlieferung kennt wenige
Könige, welche mit schwierigeren Verhältnissen gerungen und sie so
siegreich überwunden haben. Selbst im halbbarbarischen Asien haben
Fürstinnen, welche sich nie den Männern außer denen ihrer eigenen
Familie gezeigt und niemals mit ihnen außer hinter einem Vor-
hang verkehrt hatten, während der Minderjährigkeit ihrer Söhne

) Wir können es uns nicht versagen, aus einem Aufsatz von Sydney
Smith in der Edinburgh Review eine vortreffliche Stelle über diesen Theil
des Gegenstandes hierherzusetzen: "Es ist viel von einer ursprünglichen Ver-
schiedenheit der geistigen Anlage bei Frauen und Männern geredet worden:
daß die Frauen eine raschere Auffassung, die Männer ein sichreres Urtheil be-
sitzen, daß die Frauen sich mehr durch Feinheit der Gedankenverbindung, die
Männer mehr durch die Fähigkeit, Gedanken festzuhalten, auszeichnen. Jch
gestehe, daß mir das alles sehr phantastisch vorkommt. Daß zwischen den
Geistesgaben der Männer und der Frauen, denen wir alle Tage begegnen, ein
Unterschied besteht, muß, glauben wir, jedermann bemerken; aber es ist gewiß
kein solcher, der nicht durch die Verschiedenheit der Verhältnisse in welche sie
gebracht worden sind, zur Genüge erklärt werden kann, ohne daß man eine
Verschiedenheit der ursprünglichen Geistesanlage anzunehmen brauchte. So
lange Knaben und Mädchen sich im Straßenkoth herumtummeln und zu-
sammen Reifen rollen, sind die einander völlig gleich. Wenn man dann die
eine Hälfte dieser Geschöpfe einfängt und sie für eine besondere Reihe von
Meinungen und Handlungen abrichtet, und die andere Hälfte für eine genau
entgegengesetzte, dann wird natürlich ihr Geist sich verschieden gestaltet haben,
da die eine oder die andere Art von Beschäftigung diese oder jene Fähigkeit
wachgerufen hat. Es ist gewiß kein Grund vorhanden, sich in irgend welche
tiefere oder abstrusere Speculationen einzulassen, um eine so überaus einfache
Erscheinung zu erklären."

Ueber Frauenemancipation.
erörtern, würde all den Raum in Anspruch nehmen, den wir für den
ganzen Gegenstand zur Verfügung haben ). Aber wenn diejenigen,
welche versichern, daß der angemessene Wirkungskreis der Frauen
die Häuslichkeit sei, damit sagen wollen, daß sie keine Fähigkeiten für
irgend einen anderen gezeigt haben, dann beweist diese Behauptung
große Unkenntniß des Lebens und der Geschichte. Die Frauen
haben Tauglichkeit für die höchsten Stellungen der Gesellschaft
genau in dem Verhältniß bewiesen, als sie dazu zugelassen wurden.
Durch eine seltsame Jnconsequenz werden sie, die nicht zur nied-
rigsten Würde im Staate wählbar sind, in einigen Ländern zur
höchsten, zur königlichen Würde zugelassen; und wenn es einen Be-
ruf giebt, zu dem sie entschiedene Befähigung gezeigt haben, so ist
es der der Herrscherin. Wir brauchen hier nicht auf die alte Ge-
schichte zurückzugreifen; wir sehen uns vergebens nach tüchtigeren
oder standhafteren Herrschern um als Elisabeth, Jsabella von
Castilien, Maria Theresia, Katharina von Rußland, als Blanche,
die Mutter von Ludwig IX. von Frankreich und Jeanne d'Albret,
die Mutter von Heinrich IV. Die Ueberlieferung kennt wenige
Könige, welche mit schwierigeren Verhältnissen gerungen und sie so
siegreich überwunden haben. Selbst im halbbarbarischen Asien haben
Fürstinnen, welche sich nie den Männern außer denen ihrer eigenen
Familie gezeigt und niemals mit ihnen außer hinter einem Vor-
hang verkehrt hatten, während der Minderjährigkeit ihrer Söhne

) Wir können es uns nicht versagen, aus einem Aufsatz von Sydney
Smith in der Edinburgh Review eine vortreffliche Stelle über diesen Theil
des Gegenstandes hierherzusetzen: „Es ist viel von einer ursprünglichen Ver-
schiedenheit der geistigen Anlage bei Frauen und Männern geredet worden:
daß die Frauen eine raschere Auffassung, die Männer ein sichreres Urtheil be-
sitzen, daß die Frauen sich mehr durch Feinheit der Gedankenverbindung, die
Männer mehr durch die Fähigkeit, Gedanken festzuhalten, auszeichnen. Jch
gestehe, daß mir das alles sehr phantastisch vorkommt. Daß zwischen den
Geistesgaben der Männer und der Frauen, denen wir alle Tage begegnen, ein
Unterschied besteht, muß, glauben wir, jedermann bemerken; aber es ist gewiß
kein solcher, der nicht durch die Verschiedenheit der Verhältnisse in welche sie
gebracht worden sind, zur Genüge erklärt werden kann, ohne daß man eine
Verschiedenheit der ursprünglichen Geistesanlage anzunehmen brauchte. So
lange Knaben und Mädchen sich im Straßenkoth herumtummeln und zu-
sammen Reifen rollen, sind die einander völlig gleich. Wenn man dann die
eine Hälfte dieser Geschöpfe einfängt und sie für eine besondere Reihe von
Meinungen und Handlungen abrichtet, und die andere Hälfte für eine genau
entgegengesetzte, dann wird natürlich ihr Geist sich verschieden gestaltet haben,
da die eine oder die andere Art von Beschäftigung diese oder jene Fähigkeit
wachgerufen hat. Es ist gewiß kein Grund vorhanden, sich in irgend welche
tiefere oder abstrusere Speculationen einzulassen, um eine so überaus einfache
Erscheinung zu erklären.“
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[10/0010] Ueber Frauenemancipation. erörtern, würde all den Raum in Anspruch nehmen, den wir für den ganzen Gegenstand zur Verfügung haben ). Aber wenn diejenigen, welche versichern, daß der angemessene Wirkungskreis der Frauen die Häuslichkeit sei, damit sagen wollen, daß sie keine Fähigkeiten für irgend einen anderen gezeigt haben, dann beweist diese Behauptung große Unkenntniß des Lebens und der Geschichte. Die Frauen haben Tauglichkeit für die höchsten Stellungen der Gesellschaft genau in dem Verhältniß bewiesen, als sie dazu zugelassen wurden. Durch eine seltsame Jnconsequenz werden sie, die nicht zur nied- rigsten Würde im Staate wählbar sind, in einigen Ländern zur höchsten, zur königlichen Würde zugelassen; und wenn es einen Be- ruf giebt, zu dem sie entschiedene Befähigung gezeigt haben, so ist es der der Herrscherin. Wir brauchen hier nicht auf die alte Ge- schichte zurückzugreifen; wir sehen uns vergebens nach tüchtigeren oder standhafteren Herrschern um als Elisabeth, Jsabella von Castilien, Maria Theresia, Katharina von Rußland, als Blanche, die Mutter von Ludwig IX. von Frankreich und Jeanne d'Albret, die Mutter von Heinrich IV. Die Ueberlieferung kennt wenige Könige, welche mit schwierigeren Verhältnissen gerungen und sie so siegreich überwunden haben. Selbst im halbbarbarischen Asien haben Fürstinnen, welche sich nie den Männern außer denen ihrer eigenen Familie gezeigt und niemals mit ihnen außer hinter einem Vor- hang verkehrt hatten, während der Minderjährigkeit ihrer Söhne ) Wir können es uns nicht versagen, aus einem Aufsatz von Sydney Smith in der Edinburgh Review eine vortreffliche Stelle über diesen Theil des Gegenstandes hierherzusetzen: „Es ist viel von einer ursprünglichen Ver- schiedenheit der geistigen Anlage bei Frauen und Männern geredet worden: daß die Frauen eine raschere Auffassung, die Männer ein sichreres Urtheil be- sitzen, daß die Frauen sich mehr durch Feinheit der Gedankenverbindung, die Männer mehr durch die Fähigkeit, Gedanken festzuhalten, auszeichnen. Jch gestehe, daß mir das alles sehr phantastisch vorkommt. Daß zwischen den Geistesgaben der Männer und der Frauen, denen wir alle Tage begegnen, ein Unterschied besteht, muß, glauben wir, jedermann bemerken; aber es ist gewiß kein solcher, der nicht durch die Verschiedenheit der Verhältnisse in welche sie gebracht worden sind, zur Genüge erklärt werden kann, ohne daß man eine Verschiedenheit der ursprünglichen Geistesanlage anzunehmen brauchte. So lange Knaben und Mädchen sich im Straßenkoth herumtummeln und zu- sammen Reifen rollen, sind die einander völlig gleich. Wenn man dann die eine Hälfte dieser Geschöpfe einfängt und sie für eine besondere Reihe von Meinungen und Handlungen abrichtet, und die andere Hälfte für eine genau entgegengesetzte, dann wird natürlich ihr Geist sich verschieden gestaltet haben, da die eine oder die andere Art von Beschäftigung diese oder jene Fähigkeit wachgerufen hat. Es ist gewiß kein Grund vorhanden, sich in irgend welche tiefere oder abstrusere Speculationen einzulassen, um eine so überaus einfache Erscheinung zu erklären.“

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2021-07-09T17:21:46Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-07-09T17:21:46Z)

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Zitationshilfe: Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mill_frauenemancipation_1880/10>, abgerufen am 28.04.2024.