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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VII. Entzifferungskunst.
manns Jedem erzählen, der sie hören will, bis an sein
Lebensende.

Unterhaltung finde ich ferner oft darin, daß ich aus
Kleidung, Mienen, Geberden, Reden und Schweigen eines
Reise- oder Badegenossen dessen Stand, Sinnesart u. s. w.
zu errathen mich bemühe. Dabei erwächst mir der Vortheil,
daß ich in die sonst meist unfruchtbaren Anfangsgründe neuer
Bekanntschaften, die im Austausch von Gemeinplätzen be-
stehen (müssen wir doch auch, um schöne Landschaften zu finden,
meistens erst lange Strecken Landstraße zurücklegen, dann
rauhe Seitenwege einschlagen, bis endlich die Höhe mit freiem
Ausblick erreicht ist) durch solche Uebungen in der Ent-
zifferungskunst
Reiz bringe, welcher sich auch weiter-
hin, sei die betrachtete Persönlichkeit an und für sich noch
so steril, nicht schnell verliert, weil Alles, was sie sagt und
thut, neuen Stoff liefert, mein Charakterbild auszumalen
und zu prüfen. Ich verfahre dabei, wie die Gelehrten, welche
aus Knochen, Zähnen und Bruchstücken von Steinen mit
Schriftzügen ganze Thiergattungen und Menschengeschlechter
nebst ihrem Thun und Treiben, Instincten und Sitten zu
erkennen wissen. Auch der Gegenstand der Beobachtung
kommt nicht zu kurz, denn da er Aufmerksamkeit und Ein-
gehen auf seine Interessen findet, so hält er nicht zurück mit
seinem geistigen Besitzthum und gibt was er hat. Menschen
ohne Bildung entschädigen nicht selten durch mehr Ursprüng-
lichkeit.

Weiter in unsrer Musterung. Nummer Elf ist an der
Reihe. Schauplatz ein Eisenbahnwagen. Dieser junge Herr
hätte mich beinahe an meiner ganzen Theorie irre gemacht,
wenn ich's aber recht überlege, so bin ich selber schuld
an Allem. Hätte ich mit ihm eingehend Wirthshäuser,
Getränke, Cigarren abgehandelt, lauter Gegenstände, in
welchen er gebildetes Urtheil bekundete, oder auch "die
Baumwollenbranche, Spinnerei, Weberei und Vertrieb",
in denen er schöne Kenntnisse besaß, so wäre alles gut ab-

VII. Entzifferungskunſt.
manns Jedem erzählen, der ſie hören will, bis an ſein
Lebensende.

Unterhaltung finde ich ferner oft darin, daß ich aus
Kleidung, Mienen, Geberden, Reden und Schweigen eines
Reiſe- oder Badegenoſſen deſſen Stand, Sinnesart u. ſ. w.
zu errathen mich bemühe. Dabei erwächſt mir der Vortheil,
daß ich in die ſonſt meiſt unfruchtbaren Anfangsgründe neuer
Bekanntſchaften, die im Austauſch von Gemeinplätzen be-
ſtehen (müſſen wir doch auch, um ſchöne Landſchaften zu finden,
meiſtens erſt lange Strecken Landſtraße zurücklegen, dann
rauhe Seitenwege einſchlagen, bis endlich die Höhe mit freiem
Ausblick erreicht iſt) durch ſolche Uebungen in der Ent-
zifferungskunſt
Reiz bringe, welcher ſich auch weiter-
hin, ſei die betrachtete Perſönlichkeit an und für ſich noch
ſo ſteril, nicht ſchnell verliert, weil Alles, was ſie ſagt und
thut, neuen Stoff liefert, mein Charakterbild auszumalen
und zu prüfen. Ich verfahre dabei, wie die Gelehrten, welche
aus Knochen, Zähnen und Bruchſtücken von Steinen mit
Schriftzügen ganze Thiergattungen und Menſchengeſchlechter
nebſt ihrem Thun und Treiben, Inſtincten und Sitten zu
erkennen wiſſen. Auch der Gegenſtand der Beobachtung
kommt nicht zu kurz, denn da er Aufmerkſamkeit und Ein-
gehen auf ſeine Intereſſen findet, ſo hält er nicht zurück mit
ſeinem geiſtigen Beſitzthum und gibt was er hat. Menſchen
ohne Bildung entſchädigen nicht ſelten durch mehr Urſprüng-
lichkeit.

Weiter in unſrer Muſterung. Nummer Elf iſt an der
Reihe. Schauplatz ein Eiſenbahnwagen. Dieſer junge Herr
hätte mich beinahe an meiner ganzen Theorie irre gemacht,
wenn ich’s aber recht überlege, ſo bin ich ſelber ſchuld
an Allem. Hätte ich mit ihm eingehend Wirthshäuſer,
Getränke, Cigarren abgehandelt, lauter Gegenſtände, in
welchen er gebildetes Urtheil bekundete, oder auch „die
Baumwollenbranche, Spinnerei, Weberei und Vertrieb“,
in denen er ſchöne Kenntniſſe beſaß, ſo wäre alles gut ab-

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[220/0234] VII. Entzifferungskunſt. manns Jedem erzählen, der ſie hören will, bis an ſein Lebensende. Unterhaltung finde ich ferner oft darin, daß ich aus Kleidung, Mienen, Geberden, Reden und Schweigen eines Reiſe- oder Badegenoſſen deſſen Stand, Sinnesart u. ſ. w. zu errathen mich bemühe. Dabei erwächſt mir der Vortheil, daß ich in die ſonſt meiſt unfruchtbaren Anfangsgründe neuer Bekanntſchaften, die im Austauſch von Gemeinplätzen be- ſtehen (müſſen wir doch auch, um ſchöne Landſchaften zu finden, meiſtens erſt lange Strecken Landſtraße zurücklegen, dann rauhe Seitenwege einſchlagen, bis endlich die Höhe mit freiem Ausblick erreicht iſt) durch ſolche Uebungen in der Ent- zifferungskunſt Reiz bringe, welcher ſich auch weiter- hin, ſei die betrachtete Perſönlichkeit an und für ſich noch ſo ſteril, nicht ſchnell verliert, weil Alles, was ſie ſagt und thut, neuen Stoff liefert, mein Charakterbild auszumalen und zu prüfen. Ich verfahre dabei, wie die Gelehrten, welche aus Knochen, Zähnen und Bruchſtücken von Steinen mit Schriftzügen ganze Thiergattungen und Menſchengeſchlechter nebſt ihrem Thun und Treiben, Inſtincten und Sitten zu erkennen wiſſen. Auch der Gegenſtand der Beobachtung kommt nicht zu kurz, denn da er Aufmerkſamkeit und Ein- gehen auf ſeine Intereſſen findet, ſo hält er nicht zurück mit ſeinem geiſtigen Beſitzthum und gibt was er hat. Menſchen ohne Bildung entſchädigen nicht ſelten durch mehr Urſprüng- lichkeit. Weiter in unſrer Muſterung. Nummer Elf iſt an der Reihe. Schauplatz ein Eiſenbahnwagen. Dieſer junge Herr hätte mich beinahe an meiner ganzen Theorie irre gemacht, wenn ich’s aber recht überlege, ſo bin ich ſelber ſchuld an Allem. Hätte ich mit ihm eingehend Wirthshäuſer, Getränke, Cigarren abgehandelt, lauter Gegenſtände, in welchen er gebildetes Urtheil bekundete, oder auch „die Baumwollenbranche, Spinnerei, Weberei und Vertrieb“, in denen er ſchöne Kenntniſſe beſaß, ſo wäre alles gut ab-

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/234>, abgerufen am 25.11.2024.