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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VI. Der Küchenvirtuos -- gastrosophische Studien.
Anderem nicht blos auf ihren einseitigen augenblicklichen
Nutzen bedacht sein.

-- "Von volksthümlichen Gerichten meines Landes lasse
ich bald das eine bald das andere serviren, aber idealisirt,"
so drückte sich einst eine Gastgeberin aus, deren Haus im
Reisebuche nicht * sondern Sun, das Zeichen der Sonne, ver-
diente. Es war eine vortreffliche Dame, mit der ich wieder-
holt über die Kunst der Bewirthung plauderte. Schon ihr
Aeußeres war vertrauenerweckend: sie sah aus, wie eine
wandelnde gesegnete Mahlzeit. Sie hatte die Aufmerksamkeit,
als sie meine Aufmerksamkeit und Wißbegierde sah, mir ihren
Küchenchef vorzustellen, der gleichfalls manche schätzenswerthe
Aufklärung gab. In der weißen Mütze des dicken Mannes
steckte ein etwas kahler, aber denkender Kopf. Seine Welt-
anschauung war eine epikuräisch-materialistische, den Stoicis-
mus verwarf er ganz, ebenso wie den Cynismus. In
seinem "Studierzimmer" hinter der Küche befanden sich auch
die Schriften von Moleschott und Liebig, mehre chemische
Werke, ein Reagentienkasten und ein Mikroskop, behufs
Untersuchung in Fällen, wo die eingekauften Stoffe Verdacht
erregten. Von Kochbüchern, deren keines in seiner "Biblio-
thek" zu sehen war, sprach er mit lächelnder Erhabenheit.
Diesem würdigen Chef, der an einem Werke arbeitete, welches,
auf Grundlage von Brillat-Savarin und Baron Vaerst
weiter bauend, die "culinarisch ästhetische Erziehung des
Menschengeschlechts" anstrebt, verdanke ich das eben Voran-
gegangene, sowie auch die nachfolgenden Belehrungen über
gastrosophische Angelegenheiten.

Dem Vetter Michel, wenn er nach Paris geht, wird ge-
wöhnlich eingeschärft, willst du dort in den erlesensten
Gaumengenüssen schwelgen, so begib dich mit einem Freunde
sechs Uhr Abends zu Freres Provencaux oder Chevet, und
wähle nach der carte du jour beliebige Speisen, immer eine
Portion, denn die reicht aus für zwei Personen. Der Rath
ist mediocre, denn die addition für Herrn Michel und seinen

VI. Der Küchenvirtuos — gaſtroſophiſche Studien.
Anderem nicht blos auf ihren einſeitigen augenblicklichen
Nutzen bedacht ſein.

— „Von volksthümlichen Gerichten meines Landes laſſe
ich bald das eine bald das andere ſerviren, aber idealiſirt,“
ſo drückte ſich einſt eine Gaſtgeberin aus, deren Haus im
Reiſebuche nicht * ſondern ☉, das Zeichen der Sonne, ver-
diente. Es war eine vortreffliche Dame, mit der ich wieder-
holt über die Kunſt der Bewirthung plauderte. Schon ihr
Aeußeres war vertrauenerweckend: ſie ſah aus, wie eine
wandelnde geſegnete Mahlzeit. Sie hatte die Aufmerkſamkeit,
als ſie meine Aufmerkſamkeit und Wißbegierde ſah, mir ihren
Küchenchef vorzuſtellen, der gleichfalls manche ſchätzenswerthe
Aufklärung gab. In der weißen Mütze des dicken Mannes
ſteckte ein etwas kahler, aber denkender Kopf. Seine Welt-
anſchauung war eine epikuräiſch-materialiſtiſche, den Stoicis-
mus verwarf er ganz, ebenſo wie den Cynismus. In
ſeinem „Studierzimmer“ hinter der Küche befanden ſich auch
die Schriften von Moleſchott und Liebig, mehre chemiſche
Werke, ein Reagentienkaſten und ein Mikroſkop, behufs
Unterſuchung in Fällen, wo die eingekauften Stoffe Verdacht
erregten. Von Kochbüchern, deren keines in ſeiner „Biblio-
thek“ zu ſehen war, ſprach er mit lächelnder Erhabenheit.
Dieſem würdigen Chef, der an einem Werke arbeitete, welches,
auf Grundlage von Brillat-Savarin und Baron Vaerſt
weiter bauend, die „culinariſch äſthetiſche Erziehung des
Menſchengeſchlechts“ anſtrebt, verdanke ich das eben Voran-
gegangene, ſowie auch die nachfolgenden Belehrungen über
gaſtroſophiſche Angelegenheiten.

Dem Vetter Michel, wenn er nach Paris geht, wird ge-
wöhnlich eingeſchärft, willſt du dort in den erleſenſten
Gaumengenüſſen ſchwelgen, ſo begib dich mit einem Freunde
ſechs Uhr Abends zu Frères Provençaux oder Chevet, und
wähle nach der carte du jour beliebige Speiſen, immer eine
Portion, denn die reicht aus für zwei Perſonen. Der Rath
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[176/0190] VI. Der Küchenvirtuos — gaſtroſophiſche Studien. Anderem nicht blos auf ihren einſeitigen augenblicklichen Nutzen bedacht ſein. — „Von volksthümlichen Gerichten meines Landes laſſe ich bald das eine bald das andere ſerviren, aber idealiſirt,“ ſo drückte ſich einſt eine Gaſtgeberin aus, deren Haus im Reiſebuche nicht * ſondern ☉, das Zeichen der Sonne, ver- diente. Es war eine vortreffliche Dame, mit der ich wieder- holt über die Kunſt der Bewirthung plauderte. Schon ihr Aeußeres war vertrauenerweckend: ſie ſah aus, wie eine wandelnde geſegnete Mahlzeit. Sie hatte die Aufmerkſamkeit, als ſie meine Aufmerkſamkeit und Wißbegierde ſah, mir ihren Küchenchef vorzuſtellen, der gleichfalls manche ſchätzenswerthe Aufklärung gab. In der weißen Mütze des dicken Mannes ſteckte ein etwas kahler, aber denkender Kopf. Seine Welt- anſchauung war eine epikuräiſch-materialiſtiſche, den Stoicis- mus verwarf er ganz, ebenſo wie den Cynismus. In ſeinem „Studierzimmer“ hinter der Küche befanden ſich auch die Schriften von Moleſchott und Liebig, mehre chemiſche Werke, ein Reagentienkaſten und ein Mikroſkop, behufs Unterſuchung in Fällen, wo die eingekauften Stoffe Verdacht erregten. Von Kochbüchern, deren keines in ſeiner „Biblio- thek“ zu ſehen war, ſprach er mit lächelnder Erhabenheit. Dieſem würdigen Chef, der an einem Werke arbeitete, welches, auf Grundlage von Brillat-Savarin und Baron Vaerſt weiter bauend, die „culinariſch äſthetiſche Erziehung des Menſchengeſchlechts“ anſtrebt, verdanke ich das eben Voran- gegangene, ſowie auch die nachfolgenden Belehrungen über gaſtroſophiſche Angelegenheiten. Dem Vetter Michel, wenn er nach Paris geht, wird ge- wöhnlich eingeſchärft, willſt du dort in den erleſenſten Gaumengenüſſen ſchwelgen, ſo begib dich mit einem Freunde ſechs Uhr Abends zu Frères Provençaux oder Chevet, und wähle nach der carte du jour beliebige Speiſen, immer eine Portion, denn die reicht aus für zwei Perſonen. Der Rath iſt médiocre, denn die addition für Herrn Michel und ſeinen

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/190>, abgerufen am 25.11.2024.