Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Höhepunkte und Fernsichten des Reiselebens.
Engländer und Franzosen, von Haus aus gewohnt, nicht vor
fünf Uhr zu Mittag zu essen, haben wie im Felde so auch auf
der Reise einen Vortheil vor den Deutschen, die den Tag
und das Tagewerk gerade in der Mitte um ein oder zwei Uhr
durch die Hauptmalzeit unterbrechen zu müssen glauben. Wird
dieselbe auf eine späte Nachmittags- oder frühe Abendstunde
verlegt, so vertheilt sich das ganze Wanderpensum besser. Ist
der Tag nicht übermäßig heiß, so schreiten wir auch in den
Mittagsstunden rüstig fürbaß und erreichen das Ziel um so
früher. Am ersten oder zweiten Rastpunkt im Freien und
Grünen öffnen wir die Jagdtasche, schmausen das Cotelett
oder halbe Huhn, das wir von der gestrigen Malzeit bedächtig
zurücklegten und mitnahmen, thun dazu einen kurzen Trunk,
rauchen eine Cigarette und -- plaudern oder träumen. Der
einsame Wanderer zieht vielleicht die Miniaturausgabe eines
Lieblingsdichters aus der Tasche und liest einige Seiten, um
der leiblichen Nahrung auch noch die geistige zu gesellen.
Auf diese Weise kommen zuweilen Stimmungen zu Stande,
die sich mit unverlöschlicher Schrift in die Erinnerung graben.
Mir sind solche Viertelstunden, die ungerufen und unverhofft
uns besuchen, immer die eigentlichen Höhepunkte und Fern-
sichten des Reiselebens gewesen, mehr als die an berühmten
Oertlichkeiten, denn an solchen angekommen, verhalten wir
uns in der Regel kritisch, vergleichen, was wir sehen, mit
dem Phantasiebilde, das wir uns davon gemacht, oder mit
andrem früher Geschauten und reflectiren und recensiren uns
aus aller Lyrik heraus.

Wird das zweite Frühstück im Freien aus der Tasche
heraus eingenommen, so haben wir nicht auf das "gleich,
Herr, gleich!" der betreffenden Babetten, Vronis und Ur-
scheln, welches durchschnittlich dreiviertel Stunden bedeutet,
zu warten. Der starke Esser braucht zu Gunsten dieses
Reservesystems sich nichts abzudarben, sondern kann Abends
vorher eine doppelte Fleischportion bestellen. Der kluge
Tourist ißt aber nie sehr stark.

IV. Höhepunkte und Fernſichten des Reiſelebens.
Engländer und Franzoſen, von Haus aus gewohnt, nicht vor
fünf Uhr zu Mittag zu eſſen, haben wie im Felde ſo auch auf
der Reiſe einen Vortheil vor den Deutſchen, die den Tag
und das Tagewerk gerade in der Mitte um ein oder zwei Uhr
durch die Hauptmalzeit unterbrechen zu müſſen glauben. Wird
dieſelbe auf eine ſpäte Nachmittags- oder frühe Abendſtunde
verlegt, ſo vertheilt ſich das ganze Wanderpenſum beſſer. Iſt
der Tag nicht übermäßig heiß, ſo ſchreiten wir auch in den
Mittagsſtunden rüſtig fürbaß und erreichen das Ziel um ſo
früher. Am erſten oder zweiten Raſtpunkt im Freien und
Grünen öffnen wir die Jagdtaſche, ſchmauſen das Cotelett
oder halbe Huhn, das wir von der geſtrigen Malzeit bedächtig
zurücklegten und mitnahmen, thun dazu einen kurzen Trunk,
rauchen eine Cigarette und — plaudern oder träumen. Der
einſame Wanderer zieht vielleicht die Miniaturausgabe eines
Lieblingsdichters aus der Taſche und lieſt einige Seiten, um
der leiblichen Nahrung auch noch die geiſtige zu geſellen.
Auf dieſe Weiſe kommen zuweilen Stimmungen zu Stande,
die ſich mit unverlöſchlicher Schrift in die Erinnerung graben.
Mir ſind ſolche Viertelſtunden, die ungerufen und unverhofft
uns beſuchen, immer die eigentlichen Höhepunkte und Fern-
ſichten des Reiſelebens geweſen, mehr als die an berühmten
Oertlichkeiten, denn an ſolchen angekommen, verhalten wir
uns in der Regel kritiſch, vergleichen, was wir ſehen, mit
dem Phantaſiebilde, das wir uns davon gemacht, oder mit
andrem früher Geſchauten und reflectiren und recenſiren uns
aus aller Lyrik heraus.

Wird das zweite Frühſtück im Freien aus der Taſche
heraus eingenommen, ſo haben wir nicht auf das „gleich,
Herr, gleich!“ der betreffenden Babetten, Vronis und Ur-
ſcheln, welches durchſchnittlich dreiviertel Stunden bedeutet,
zu warten. Der ſtarke Eſſer braucht zu Gunſten dieſes
Reſerveſyſtems ſich nichts abzudarben, ſondern kann Abends
vorher eine doppelte Fleiſchportion beſtellen. Der kluge
Touriſt ißt aber nie ſehr ſtark.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0102" n="88"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> Höhepunkte und Fern&#x017F;ichten des Rei&#x017F;elebens.</fw><lb/>
Engländer und Franzo&#x017F;en, von Haus aus gewohnt, nicht vor<lb/>
fünf Uhr zu Mittag zu e&#x017F;&#x017F;en, haben wie im Felde &#x017F;o auch auf<lb/>
der Rei&#x017F;e einen Vortheil vor den Deut&#x017F;chen, die den Tag<lb/>
und das Tagewerk gerade in der Mitte um ein oder zwei Uhr<lb/>
durch die Hauptmalzeit unterbrechen zu mü&#x017F;&#x017F;en glauben. Wird<lb/>
die&#x017F;elbe auf eine &#x017F;päte Nachmittags- oder frühe Abend&#x017F;tunde<lb/>
verlegt, &#x017F;o vertheilt &#x017F;ich das ganze Wanderpen&#x017F;um be&#x017F;&#x017F;er. I&#x017F;t<lb/>
der Tag nicht übermäßig heiß, &#x017F;o &#x017F;chreiten wir auch in den<lb/>
Mittags&#x017F;tunden rü&#x017F;tig fürbaß und erreichen das Ziel um &#x017F;o<lb/>
früher. Am er&#x017F;ten oder zweiten Ra&#x017F;tpunkt im Freien und<lb/>
Grünen öffnen wir die Jagdta&#x017F;che, &#x017F;chmau&#x017F;en das Cotelett<lb/>
oder halbe Huhn, das wir von der ge&#x017F;trigen Malzeit bedächtig<lb/>
zurücklegten und mitnahmen, thun dazu einen kurzen Trunk,<lb/>
rauchen eine Cigarette und &#x2014; plaudern oder träumen. Der<lb/>
ein&#x017F;ame Wanderer zieht vielleicht die Miniaturausgabe eines<lb/>
Lieblingsdichters aus der Ta&#x017F;che und lie&#x017F;t einige Seiten, um<lb/>
der leiblichen Nahrung auch noch die gei&#x017F;tige zu ge&#x017F;ellen.<lb/>
Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e kommen zuweilen Stimmungen zu Stande,<lb/>
die &#x017F;ich mit unverlö&#x017F;chlicher Schrift in die Erinnerung graben.<lb/>
Mir &#x017F;ind &#x017F;olche Viertel&#x017F;tunden, die ungerufen und unverhofft<lb/>
uns be&#x017F;uchen, immer die eigentlichen Höhepunkte und Fern-<lb/>
&#x017F;ichten des Rei&#x017F;elebens gewe&#x017F;en, mehr als die an berühmten<lb/>
Oertlichkeiten, denn an &#x017F;olchen angekommen, verhalten wir<lb/>
uns in der Regel kriti&#x017F;ch, vergleichen, was wir &#x017F;ehen, mit<lb/>
dem Phanta&#x017F;iebilde, das wir uns davon gemacht, oder mit<lb/>
andrem früher Ge&#x017F;chauten und reflectiren und recen&#x017F;iren uns<lb/>
aus aller Lyrik heraus.</p><lb/>
        <p>Wird das zweite Früh&#x017F;tück im Freien aus der Ta&#x017F;che<lb/>
heraus eingenommen, &#x017F;o haben wir nicht auf das &#x201E;gleich,<lb/>
Herr, gleich!&#x201C; der betreffenden Babetten, Vronis und Ur-<lb/>
&#x017F;cheln, welches durch&#x017F;chnittlich dreiviertel Stunden bedeutet,<lb/>
zu warten. Der &#x017F;tarke E&#x017F;&#x017F;er braucht zu Gun&#x017F;ten die&#x017F;es<lb/>
Re&#x017F;erve&#x017F;y&#x017F;tems &#x017F;ich nichts abzudarben, &#x017F;ondern kann Abends<lb/>
vorher eine doppelte Flei&#x017F;chportion be&#x017F;tellen. Der kluge<lb/>
Touri&#x017F;t ißt aber nie &#x017F;ehr &#x017F;tark.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[88/0102] IV. Höhepunkte und Fernſichten des Reiſelebens. Engländer und Franzoſen, von Haus aus gewohnt, nicht vor fünf Uhr zu Mittag zu eſſen, haben wie im Felde ſo auch auf der Reiſe einen Vortheil vor den Deutſchen, die den Tag und das Tagewerk gerade in der Mitte um ein oder zwei Uhr durch die Hauptmalzeit unterbrechen zu müſſen glauben. Wird dieſelbe auf eine ſpäte Nachmittags- oder frühe Abendſtunde verlegt, ſo vertheilt ſich das ganze Wanderpenſum beſſer. Iſt der Tag nicht übermäßig heiß, ſo ſchreiten wir auch in den Mittagsſtunden rüſtig fürbaß und erreichen das Ziel um ſo früher. Am erſten oder zweiten Raſtpunkt im Freien und Grünen öffnen wir die Jagdtaſche, ſchmauſen das Cotelett oder halbe Huhn, das wir von der geſtrigen Malzeit bedächtig zurücklegten und mitnahmen, thun dazu einen kurzen Trunk, rauchen eine Cigarette und — plaudern oder träumen. Der einſame Wanderer zieht vielleicht die Miniaturausgabe eines Lieblingsdichters aus der Taſche und lieſt einige Seiten, um der leiblichen Nahrung auch noch die geiſtige zu geſellen. Auf dieſe Weiſe kommen zuweilen Stimmungen zu Stande, die ſich mit unverlöſchlicher Schrift in die Erinnerung graben. Mir ſind ſolche Viertelſtunden, die ungerufen und unverhofft uns beſuchen, immer die eigentlichen Höhepunkte und Fern- ſichten des Reiſelebens geweſen, mehr als die an berühmten Oertlichkeiten, denn an ſolchen angekommen, verhalten wir uns in der Regel kritiſch, vergleichen, was wir ſehen, mit dem Phantaſiebilde, das wir uns davon gemacht, oder mit andrem früher Geſchauten und reflectiren und recenſiren uns aus aller Lyrik heraus. Wird das zweite Frühſtück im Freien aus der Taſche heraus eingenommen, ſo haben wir nicht auf das „gleich, Herr, gleich!“ der betreffenden Babetten, Vronis und Ur- ſcheln, welches durchſchnittlich dreiviertel Stunden bedeutet, zu warten. Der ſtarke Eſſer braucht zu Gunſten dieſes Reſerveſyſtems ſich nichts abzudarben, ſondern kann Abends vorher eine doppelte Fleiſchportion beſtellen. Der kluge Touriſt ißt aber nie ſehr ſtark.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/102
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/102>, abgerufen am 24.11.2024.