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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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II.
Vorschläge zur Umgestaltung der bürger-
lichen Gesellschaft.


Jndem meine Feder die gesellschaftliche Frage zu berühren
im Begriff ist, strauchelt sie, wie der Wanderer, der von geebne-
ten, ausgetretenen Pfaden in das geheimnißvolle Dickicht des
Urwaldes gelangt und den Fuß auf eine den Weg versperrende
Schlange zu setzen im Begriff ist; so gefährlich erscheint das Un-
ternehmen. Es überfällt sie der Schauer des Unendlichen, wie
den Jüngling, der, kühn dem Meere sich anvertrauend, einer neuen
unbekannten Heimath sehnsuchtsvoll entgegensegelt. Haben doch
große Geister, wie Thiers, der Vertheidiger des Eigenthums,
gesagt, die gesellschaftliche Frage sei unlösbar, wie die Meßbarkeit
des Umkreises im Verhältniß zum Durchmesser eines Kreises:
und zwar aus dem Grunde unlösbar, weil eben das Eigenthum
unantastbar sei. Als ob nur die Gemeinschaft die gesellschaftliche Frage
lösen könnte! Als ob die Gemeinschaft ohne Eigenthum bestehen
könnte! Denn so wie man das Gemeinsame theilt, um zu ge-
nießen, so ist man im Eigenthum. Ja, sagt man aber eben, diese
Gemeinsamkeit ist es gerade, die nicht sein soll. Jeder soll für sich arbeiten,
für sich erwerben, und nach Maßgabe des errungenen Eigenthums
genießen. Wem der Erwerb durch Arbeit nicht gelingt, ja dem
sei eben nicht zu helfen, der könne in dem Strome der Gesell-
schaft nicht oben auf schwimmen; er gehe zu Grunde. Jn diesem
Sinne hat Proudhon von der Nothwendigkeit des menschlichen
Elends gesprochen, und Malthus die Frage so gelöst, daß wer
sich nicht ernähren könne, verhungern und die Kinder tödten müsse,
für die er keine Speise habe. Jch bin aber der Ueberzeugung, daß,
wenn eine Weltzeit eine Aufgabe stellt, wie denn die unsrige un-
läugbar es mit der gesellschaftlichen thut, sie auch eine andere
Lösung, als die blos verneinende des Wirrwars hat. Und wenn
uns die staatlichen Umwälzungen eben zu diesem Wirrwar füh-
ren sollten, ohne ihn vermeiden zu können, so wird uns auch

II.
Vorſchläge zur Umgeſtaltung der bürger-
lichen Geſellſchaft.


Jndem meine Feder die geſellſchaftliche Frage zu berühren
im Begriff iſt, ſtrauchelt ſie, wie der Wanderer, der von geebne-
ten, ausgetretenen Pfaden in das geheimnißvolle Dickicht des
Urwaldes gelangt und den Fuß auf eine den Weg verſperrende
Schlange zu ſetzen im Begriff iſt; ſo gefährlich erſcheint das Un-
ternehmen. Es überfällt ſie der Schauer des Unendlichen, wie
den Jüngling, der, kühn dem Meere ſich anvertrauend, einer neuen
unbekannten Heimath ſehnſuchtsvoll entgegenſegelt. Haben doch
große Geiſter, wie Thiers, der Vertheidiger des Eigenthums,
geſagt, die geſellſchaftliche Frage ſei unlösbar, wie die Meßbarkeit
des Umkreiſes im Verhältniß zum Durchmeſſer eines Kreiſes:
und zwar aus dem Grunde unlösbar, weil eben das Eigenthum
unantaſtbar ſei. Als ob nur die Gemeinſchaft die geſellſchaftliche Frage
löſen könnte! Als ob die Gemeinſchaft ohne Eigenthum beſtehen
könnte! Denn ſo wie man das Gemeinſame theilt, um zu ge-
nießen, ſo iſt man im Eigenthum. Ja, ſagt man aber eben, dieſe
Gemeinſamkeit iſt es gerade, die nicht ſein ſoll. Jeder ſoll für ſich arbeiten,
für ſich erwerben, und nach Maßgabe des errungenen Eigenthums
genießen. Wem der Erwerb durch Arbeit nicht gelingt, ja dem
ſei eben nicht zu helfen, der könne in dem Strome der Geſell-
ſchaft nicht oben auf ſchwimmen; er gehe zu Grunde. Jn dieſem
Sinne hat Proudhon von der Nothwendigkeit des menſchlichen
Elends geſprochen, und Malthus die Frage ſo gelöſt, daß wer
ſich nicht ernähren könne, verhungern und die Kinder tödten müſſe,
für die er keine Speiſe habe. Jch bin aber der Ueberzeugung, daß,
wenn eine Weltzeit eine Aufgabe ſtellt, wie denn die unſrige un-
läugbar es mit der geſellſchaftlichen thut, ſie auch eine andere
Löſung, als die blos verneinende des Wirrwars hat. Und wenn
uns die ſtaatlichen Umwälzungen eben zu dieſem Wirrwar füh-
ren ſollten, ohne ihn vermeiden zu können, ſo wird uns auch

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[36/0046] II. Vorſchläge zur Umgeſtaltung der bürger- lichen Geſellſchaft. Jndem meine Feder die geſellſchaftliche Frage zu berühren im Begriff iſt, ſtrauchelt ſie, wie der Wanderer, der von geebne- ten, ausgetretenen Pfaden in das geheimnißvolle Dickicht des Urwaldes gelangt und den Fuß auf eine den Weg verſperrende Schlange zu ſetzen im Begriff iſt; ſo gefährlich erſcheint das Un- ternehmen. Es überfällt ſie der Schauer des Unendlichen, wie den Jüngling, der, kühn dem Meere ſich anvertrauend, einer neuen unbekannten Heimath ſehnſuchtsvoll entgegenſegelt. Haben doch große Geiſter, wie Thiers, der Vertheidiger des Eigenthums, geſagt, die geſellſchaftliche Frage ſei unlösbar, wie die Meßbarkeit des Umkreiſes im Verhältniß zum Durchmeſſer eines Kreiſes: und zwar aus dem Grunde unlösbar, weil eben das Eigenthum unantaſtbar ſei. Als ob nur die Gemeinſchaft die geſellſchaftliche Frage löſen könnte! Als ob die Gemeinſchaft ohne Eigenthum beſtehen könnte! Denn ſo wie man das Gemeinſame theilt, um zu ge- nießen, ſo iſt man im Eigenthum. Ja, ſagt man aber eben, dieſe Gemeinſamkeit iſt es gerade, die nicht ſein ſoll. Jeder ſoll für ſich arbeiten, für ſich erwerben, und nach Maßgabe des errungenen Eigenthums genießen. Wem der Erwerb durch Arbeit nicht gelingt, ja dem ſei eben nicht zu helfen, der könne in dem Strome der Geſell- ſchaft nicht oben auf ſchwimmen; er gehe zu Grunde. Jn dieſem Sinne hat Proudhon von der Nothwendigkeit des menſchlichen Elends geſprochen, und Malthus die Frage ſo gelöſt, daß wer ſich nicht ernähren könne, verhungern und die Kinder tödten müſſe, für die er keine Speiſe habe. Jch bin aber der Ueberzeugung, daß, wenn eine Weltzeit eine Aufgabe ſtellt, wie denn die unſrige un- läugbar es mit der geſellſchaftlichen thut, ſie auch eine andere Löſung, als die blos verneinende des Wirrwars hat. Und wenn uns die ſtaatlichen Umwälzungen eben zu dieſem Wirrwar füh- ren ſollten, ohne ihn vermeiden zu können, ſo wird uns auch

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/46>, abgerufen am 23.04.2024.