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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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dann noch die Lösung der gesellschaftlichen Frage aus diesem Ab-
grund durch Erschließung einer neuen Welt erretten. Jch fürchte
fast, wir können solche Feuerprobe nicht umgehen, und die Mensch-
heit werde nur durch eine schwere Geburt zu ihrem normalen
Zustande gelangen. Denn bald wird die ganze Welt, wie Proud-
hon sagt, nur noch eine Kaserne für Sclaven sein. Sehe ich die
Völker sich zerfleischen und die alte Welt aus den Fugen gehen,
so will ich in der folgenden Darstellung, ohne die Selbststän-
digkeit des Einzellebens zu gefährden, die schon im Christenthum
angedeutete Lehre von der allgemeinen Verbrüderung der Mensch-
heit entwickeln, um durch die Art, wie sie aufgenommen werden
wird, zu erkennen, ob ich damit nur einem Schatten nachjage und
Hirngespinnste ausbrüte, oder einen Lebenspunkt der Neuzeit ge-
troffen habe.

Wir stehen am Vorabend einer Schlacht, die, wenn wir auch
hoffen dürfen, daß sie unblutig geschlagen werde, doch von der
wichtigsten Entscheidung sein muß, weil es von ihrer Wendung
abhängen wird, ob die von der Bildungsstufe der Neuzeit theil-
weise errungenen Siege bestätigt und vervollständigt, oder mit
Einer Niederlage sämmtlich wieder in Frage gestellt und umge-
stürzt werden sollen. Daher schreibt sich die Spannung der Gei-
ster, je näher der Stundenzeiger der Weltgeschichte das ganze
Europa zu dem Augenblicke der wo möglich friedlichen Lösung
hindrängt. Die von Luther begonnene religiöse Umwälzung hat
uns wohl von dem Glauben an ein fremdes Ansehen befreit.
Es ist nicht mehr ein anderer Mensch oder die Kirche, welche
uns die Norm unseres Glaubens vorschreiben. Aber wir hängen
noch von einem Ansehen in unserem eigenen Jnnern ab. Es ist
ein unaufgelöster Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach einer
fernen Unendlichkeit und den Schranken des irdischen Daseins, in
das wir gebannt sind, übrig geblieben; ein Zwiespalt, den Prie-
ster sich zu Nutze machen, um das Volk am Gängelbande des
Glaubens festzuhalten, und damit auch aus der staatlichen Un-
mündigkeit nicht herauszulassen. Den wahrhaft allgemeinen Geist
der Welt muß Jeder in seiner eigenen Brust beherbergen, um den
Sprüchen, die aus seinem Jnnern kommen, zu folgen. Jn dem
Staatsleben hat die französische Umwälzung von 1789 den allge-

dann noch die Löſung der geſellſchaftlichen Frage aus dieſem Ab-
grund durch Erſchließung einer neuen Welt erretten. Jch fürchte
faſt, wir können ſolche Feuerprobe nicht umgehen, und die Menſch-
heit werde nur durch eine ſchwere Geburt zu ihrem normalen
Zuſtande gelangen. Denn bald wird die ganze Welt, wie Proud-
hon ſagt, nur noch eine Kaſerne für Sclaven ſein. Sehe ich die
Völker ſich zerfleiſchen und die alte Welt aus den Fugen gehen,
ſo will ich in der folgenden Darſtellung, ohne die Selbſtſtän-
digkeit des Einzellebens zu gefährden, die ſchon im Chriſtenthum
angedeutete Lehre von der allgemeinen Verbrüderung der Menſch-
heit entwickeln, um durch die Art, wie ſie aufgenommen werden
wird, zu erkennen, ob ich damit nur einem Schatten nachjage und
Hirngeſpinnſte ausbrüte, oder einen Lebenspunkt der Neuzeit ge-
troffen habe.

Wir ſtehen am Vorabend einer Schlacht, die, wenn wir auch
hoffen dürfen, daß ſie unblutig geſchlagen werde, doch von der
wichtigſten Entſcheidung ſein muß, weil es von ihrer Wendung
abhängen wird, ob die von der Bildungsſtufe der Neuzeit theil-
weiſe errungenen Siege beſtätigt und vervollſtändigt, oder mit
Einer Niederlage ſämmtlich wieder in Frage geſtellt und umge-
ſtürzt werden ſollen. Daher ſchreibt ſich die Spannung der Gei-
ſter, je näher der Stundenzeiger der Weltgeſchichte das ganze
Europa zu dem Augenblicke der wo möglich friedlichen Löſung
hindrängt. Die von Luther begonnene religiöſe Umwälzung hat
uns wohl von dem Glauben an ein fremdes Anſehen befreit.
Es iſt nicht mehr ein anderer Menſch oder die Kirche, welche
uns die Norm unſeres Glaubens vorſchreiben. Aber wir hängen
noch von einem Anſehen in unſerem eigenen Jnnern ab. Es iſt
ein unaufgelöſter Zwieſpalt zwiſchen der Sehnſucht nach einer
fernen Unendlichkeit und den Schranken des irdiſchen Daſeins, in
das wir gebannt ſind, übrig geblieben; ein Zwieſpalt, den Prie-
ſter ſich zu Nutze machen, um das Volk am Gängelbande des
Glaubens feſtzuhalten, und damit auch aus der ſtaatlichen Un-
mündigkeit nicht herauszulaſſen. Den wahrhaft allgemeinen Geiſt
der Welt muß Jeder in ſeiner eigenen Bruſt beherbergen, um den
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[37/0047] dann noch die Löſung der geſellſchaftlichen Frage aus dieſem Ab- grund durch Erſchließung einer neuen Welt erretten. Jch fürchte faſt, wir können ſolche Feuerprobe nicht umgehen, und die Menſch- heit werde nur durch eine ſchwere Geburt zu ihrem normalen Zuſtande gelangen. Denn bald wird die ganze Welt, wie Proud- hon ſagt, nur noch eine Kaſerne für Sclaven ſein. Sehe ich die Völker ſich zerfleiſchen und die alte Welt aus den Fugen gehen, ſo will ich in der folgenden Darſtellung, ohne die Selbſtſtän- digkeit des Einzellebens zu gefährden, die ſchon im Chriſtenthum angedeutete Lehre von der allgemeinen Verbrüderung der Menſch- heit entwickeln, um durch die Art, wie ſie aufgenommen werden wird, zu erkennen, ob ich damit nur einem Schatten nachjage und Hirngeſpinnſte ausbrüte, oder einen Lebenspunkt der Neuzeit ge- troffen habe. Wir ſtehen am Vorabend einer Schlacht, die, wenn wir auch hoffen dürfen, daß ſie unblutig geſchlagen werde, doch von der wichtigſten Entſcheidung ſein muß, weil es von ihrer Wendung abhängen wird, ob die von der Bildungsſtufe der Neuzeit theil- weiſe errungenen Siege beſtätigt und vervollſtändigt, oder mit Einer Niederlage ſämmtlich wieder in Frage geſtellt und umge- ſtürzt werden ſollen. Daher ſchreibt ſich die Spannung der Gei- ſter, je näher der Stundenzeiger der Weltgeſchichte das ganze Europa zu dem Augenblicke der wo möglich friedlichen Löſung hindrängt. Die von Luther begonnene religiöſe Umwälzung hat uns wohl von dem Glauben an ein fremdes Anſehen befreit. Es iſt nicht mehr ein anderer Menſch oder die Kirche, welche uns die Norm unſeres Glaubens vorſchreiben. Aber wir hängen noch von einem Anſehen in unſerem eigenen Jnnern ab. Es iſt ein unaufgelöſter Zwieſpalt zwiſchen der Sehnſucht nach einer fernen Unendlichkeit und den Schranken des irdiſchen Daſeins, in das wir gebannt ſind, übrig geblieben; ein Zwieſpalt, den Prie- ſter ſich zu Nutze machen, um das Volk am Gängelbande des Glaubens feſtzuhalten, und damit auch aus der ſtaatlichen Un- mündigkeit nicht herauszulaſſen. Den wahrhaft allgemeinen Geiſt der Welt muß Jeder in ſeiner eigenen Bruſt beherbergen, um den Sprüchen, die aus ſeinem Jnnern kommen, zu folgen. Jn dem Staatsleben hat die franzöſiſche Umwälzung von 1789 den allge-

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/47>, abgerufen am 23.11.2024.