Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

entschlossen, -- sie war das beste Weib, das er finden konnte!

Die letzte Stufe war überschritten. Oben auf dem Gang war es heller, als sie hätten erwarten können. Der abnehmende Mond war aufgegangen, die Wolken im Osten hatten sich verzogen, und der Schein fiel durch das hintere Fenster. Mit um so größerer Sicherheit getraute sich die Bäbe geräuschlos an der Thüre des Schlafzimmers vorbeizukommen, das auf der Gartenseite lag. Sie wendete sich und ging vorwärts. Als sie aber noch zwei Schritte von der Thüre entfernt war, fing es drinnen an zu husten. Es war der geistliche Herr, der an solchen Anfällen zu leiden pflegte. Er hustete stark, nachhaltig, und mußte völlig wach sein. Die Möglichkeit, gehört und entdeckt tu werden, schreckte einen Moment auch das Herz des Mädchens.

Den Schneider überkam eine unaussprechliche Angst. Bei dem ersten Laut in der Kammer hatte er mit seinen Händen instinctmäßig den Kopf der Bäbe zurückgezogen, wie ein Reiter die Zügel anzieht, und sein Herzklopfen war so stark geworden, daß es die Trägerin an ihrer Schulter spürte. Schnell ergriff sie seine rechte Hand und gab ihr einen Druck, der die Bedeutung hatte: Um Gotteswillen, sei ruhig! -- und stand. Und Tobias ermannte sich; er ließ ihren Kopf und Hals in Frieden, hielt sich gelassen fest und blieb stumm. Das Schlagen seines Herzens und das Athmen der Angst zu verhindern, ging natürlich über seine Kräfte.

entschlossen, — sie war das beste Weib, das er finden konnte!

Die letzte Stufe war überschritten. Oben auf dem Gang war es heller, als sie hätten erwarten können. Der abnehmende Mond war aufgegangen, die Wolken im Osten hatten sich verzogen, und der Schein fiel durch das hintere Fenster. Mit um so größerer Sicherheit getraute sich die Bäbe geräuschlos an der Thüre des Schlafzimmers vorbeizukommen, das auf der Gartenseite lag. Sie wendete sich und ging vorwärts. Als sie aber noch zwei Schritte von der Thüre entfernt war, fing es drinnen an zu husten. Es war der geistliche Herr, der an solchen Anfällen zu leiden pflegte. Er hustete stark, nachhaltig, und mußte völlig wach sein. Die Möglichkeit, gehört und entdeckt tu werden, schreckte einen Moment auch das Herz des Mädchens.

Den Schneider überkam eine unaussprechliche Angst. Bei dem ersten Laut in der Kammer hatte er mit seinen Händen instinctmäßig den Kopf der Bäbe zurückgezogen, wie ein Reiter die Zügel anzieht, und sein Herzklopfen war so stark geworden, daß es die Trägerin an ihrer Schulter spürte. Schnell ergriff sie seine rechte Hand und gab ihr einen Druck, der die Bedeutung hatte: Um Gotteswillen, sei ruhig! — und stand. Und Tobias ermannte sich; er ließ ihren Kopf und Hals in Frieden, hielt sich gelassen fest und blieb stumm. Das Schlagen seines Herzens und das Athmen der Angst zu verhindern, ging natürlich über seine Kräfte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="3">
        <p><pb facs="#f0099"/>
entschlossen, &#x2014; sie war das beste      Weib, das er finden konnte!</p><lb/>
        <p>Die letzte Stufe war überschritten. Oben auf dem Gang war es heller, als sie hätten erwarten      können. Der abnehmende Mond war aufgegangen, die Wolken im Osten hatten sich verzogen, und der      Schein fiel durch das hintere Fenster. Mit um so größerer Sicherheit getraute sich die Bäbe      geräuschlos an der Thüre des Schlafzimmers vorbeizukommen, das auf der Gartenseite lag. Sie      wendete sich und ging vorwärts. Als sie aber noch zwei Schritte von der Thüre entfernt war,      fing es drinnen an zu husten. Es war der geistliche Herr, der an solchen Anfällen zu leiden      pflegte. Er hustete stark, nachhaltig, und mußte völlig wach sein. Die Möglichkeit, gehört und      entdeckt tu werden, schreckte einen Moment auch das Herz des Mädchens.</p><lb/>
        <p>Den Schneider überkam eine unaussprechliche Angst. Bei dem ersten Laut in der Kammer hatte er      mit seinen Händen instinctmäßig den Kopf der Bäbe zurückgezogen, wie ein Reiter die Zügel      anzieht, und sein Herzklopfen war so stark geworden, daß es die Trägerin an ihrer Schulter      spürte. Schnell ergriff sie seine rechte Hand und gab ihr einen Druck, der die Bedeutung hatte:      Um Gotteswillen, sei ruhig! &#x2014; und stand. Und Tobias ermannte sich; er ließ ihren Kopf und Hals      in Frieden, hielt sich gelassen fest und blieb stumm. Das Schlagen seines Herzens und das      Athmen der Angst zu verhindern, ging natürlich über seine Kräfte.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] entschlossen, — sie war das beste Weib, das er finden konnte! Die letzte Stufe war überschritten. Oben auf dem Gang war es heller, als sie hätten erwarten können. Der abnehmende Mond war aufgegangen, die Wolken im Osten hatten sich verzogen, und der Schein fiel durch das hintere Fenster. Mit um so größerer Sicherheit getraute sich die Bäbe geräuschlos an der Thüre des Schlafzimmers vorbeizukommen, das auf der Gartenseite lag. Sie wendete sich und ging vorwärts. Als sie aber noch zwei Schritte von der Thüre entfernt war, fing es drinnen an zu husten. Es war der geistliche Herr, der an solchen Anfällen zu leiden pflegte. Er hustete stark, nachhaltig, und mußte völlig wach sein. Die Möglichkeit, gehört und entdeckt tu werden, schreckte einen Moment auch das Herz des Mädchens. Den Schneider überkam eine unaussprechliche Angst. Bei dem ersten Laut in der Kammer hatte er mit seinen Händen instinctmäßig den Kopf der Bäbe zurückgezogen, wie ein Reiter die Zügel anzieht, und sein Herzklopfen war so stark geworden, daß es die Trägerin an ihrer Schulter spürte. Schnell ergriff sie seine rechte Hand und gab ihr einen Druck, der die Bedeutung hatte: Um Gotteswillen, sei ruhig! — und stand. Und Tobias ermannte sich; er ließ ihren Kopf und Hals in Frieden, hielt sich gelassen fest und blieb stumm. Das Schlagen seines Herzens und das Athmen der Angst zu verhindern, ging natürlich über seine Kräfte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/99
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/99>, abgerufen am 27.11.2024.