Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht das Wallen und Sieden des Herzens, dem sie entstiegen waren. Er lief zwischen herrlichen Saatfeldern hin, aber er nahm sie nicht wahr, so wenig als er die Lerchen hörte, die nach und nach die Luft zu beleben anfingen. Sein Geist war der Außenwelt entnommen, seine Füße tragen ihn nur mechanisch weiter. Ein Markstein, an den er stieß, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah auf und bemerkte, daß er in die Feldung des Nachbardorfes eingetreten und diesem näher war als dem seinen. Das stimmte ihn ruhiger. Es war sicherer hier und darum für ihn heimlicher. Einen Seitenpfad einschlagend ging er langsamer, aber um vieles gemüthlicher vorwärts. Nach und nach legte sich der innere Aufruhr ganz, der Muth kam ihm wieder, und die Kraft der Vertheidigung regte sich in ihm. Die Phantasie, die große Trösterin, erhob sich, fühlte sich und begann ihr Geschäft, die erlebten Unbilden umzubilden und das, was geschehen war, so darzustellen, wie es hätte geschehen sollen. Er dachte sich die Kerle im Garten, wie sie an der Tafel saßen und von ihm sprachen. Es gab ein Gerede hin und her, und mancher dumme Spaß wurde über ihn gemacht. Wenn er jetzt käme, rief einer der Lümmel, dem sollt' es gutgehen! -- Und siehe da, er kam, er setzte sich zu ihnen -- aber die Sache ging anders, als sie gedachten! -- Das Trätzen fing an, einer half dem andern. Eine Zeitlang hörte er es ruhig an, indem er nur diesem und jenem eine Red' hinschmiß, daß nicht das Wallen und Sieden des Herzens, dem sie entstiegen waren. Er lief zwischen herrlichen Saatfeldern hin, aber er nahm sie nicht wahr, so wenig als er die Lerchen hörte, die nach und nach die Luft zu beleben anfingen. Sein Geist war der Außenwelt entnommen, seine Füße tragen ihn nur mechanisch weiter. Ein Markstein, an den er stieß, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah auf und bemerkte, daß er in die Feldung des Nachbardorfes eingetreten und diesem näher war als dem seinen. Das stimmte ihn ruhiger. Es war sicherer hier und darum für ihn heimlicher. Einen Seitenpfad einschlagend ging er langsamer, aber um vieles gemüthlicher vorwärts. Nach und nach legte sich der innere Aufruhr ganz, der Muth kam ihm wieder, und die Kraft der Vertheidigung regte sich in ihm. Die Phantasie, die große Trösterin, erhob sich, fühlte sich und begann ihr Geschäft, die erlebten Unbilden umzubilden und das, was geschehen war, so darzustellen, wie es hätte geschehen sollen. Er dachte sich die Kerle im Garten, wie sie an der Tafel saßen und von ihm sprachen. Es gab ein Gerede hin und her, und mancher dumme Spaß wurde über ihn gemacht. Wenn er jetzt käme, rief einer der Lümmel, dem sollt' es gutgehen! — Und siehe da, er kam, er setzte sich zu ihnen — aber die Sache ging anders, als sie gedachten! — Das Trätzen fing an, einer half dem andern. Eine Zeitlang hörte er es ruhig an, indem er nur diesem und jenem eine Red' hinschmiß, daß <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0147"/> nicht das Wallen und Sieden des Herzens, dem sie entstiegen waren. Er lief zwischen herrlichen Saatfeldern hin, aber er nahm sie nicht wahr, so wenig als er die Lerchen hörte, die nach und nach die Luft zu beleben anfingen. Sein Geist war der Außenwelt entnommen, seine Füße tragen ihn nur mechanisch weiter.</p><lb/> <p>Ein Markstein, an den er stieß, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah auf und bemerkte, daß er in die Feldung des Nachbardorfes eingetreten und diesem näher war als dem seinen. Das stimmte ihn ruhiger. Es war sicherer hier und darum für ihn heimlicher. Einen Seitenpfad einschlagend ging er langsamer, aber um vieles gemüthlicher vorwärts. Nach und nach legte sich der innere Aufruhr ganz, der Muth kam ihm wieder, und die Kraft der Vertheidigung regte sich in ihm. Die Phantasie, die große Trösterin, erhob sich, fühlte sich und begann ihr Geschäft, die erlebten Unbilden umzubilden und das, was geschehen war, so darzustellen, wie es hätte geschehen sollen.</p><lb/> <p>Er dachte sich die Kerle im Garten, wie sie an der Tafel saßen und von ihm sprachen. Es gab ein Gerede hin und her, und mancher dumme Spaß wurde über ihn gemacht. Wenn er jetzt käme, rief einer der Lümmel, dem sollt' es gutgehen! — Und siehe da, er kam, er setzte sich zu ihnen — aber die Sache ging anders, als sie gedachten! — Das Trätzen fing an, einer half dem andern. Eine Zeitlang hörte er es ruhig an, indem er nur diesem und jenem eine Red' hinschmiß, daß<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0147]
nicht das Wallen und Sieden des Herzens, dem sie entstiegen waren. Er lief zwischen herrlichen Saatfeldern hin, aber er nahm sie nicht wahr, so wenig als er die Lerchen hörte, die nach und nach die Luft zu beleben anfingen. Sein Geist war der Außenwelt entnommen, seine Füße tragen ihn nur mechanisch weiter.
Ein Markstein, an den er stieß, brachte ihn wieder zur Besinnung. Er sah auf und bemerkte, daß er in die Feldung des Nachbardorfes eingetreten und diesem näher war als dem seinen. Das stimmte ihn ruhiger. Es war sicherer hier und darum für ihn heimlicher. Einen Seitenpfad einschlagend ging er langsamer, aber um vieles gemüthlicher vorwärts. Nach und nach legte sich der innere Aufruhr ganz, der Muth kam ihm wieder, und die Kraft der Vertheidigung regte sich in ihm. Die Phantasie, die große Trösterin, erhob sich, fühlte sich und begann ihr Geschäft, die erlebten Unbilden umzubilden und das, was geschehen war, so darzustellen, wie es hätte geschehen sollen.
Er dachte sich die Kerle im Garten, wie sie an der Tafel saßen und von ihm sprachen. Es gab ein Gerede hin und her, und mancher dumme Spaß wurde über ihn gemacht. Wenn er jetzt käme, rief einer der Lümmel, dem sollt' es gutgehen! — Und siehe da, er kam, er setzte sich zu ihnen — aber die Sache ging anders, als sie gedachten! — Das Trätzen fing an, einer half dem andern. Eine Zeitlang hörte er es ruhig an, indem er nur diesem und jenem eine Red' hinschmiß, daß
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/147>, abgerufen am 26.06.2024. |