Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Glieder ganz leicht -- an nichts konnte man sehen, was ihm gestern passirt war. -- Nach dem letzten Gedanken erhellte sich übrigens das Gesicht des Alten mit einem eigenen Lächeln. Es war ihm eingefallen, daß er nach den ersten Ohrfeigen dem zu Boden Geworfenen hauptsächlich die Schultern und den Rücken der ganzen Länge nach bearbeitet hatte und demgemäß die Folgen der Züchtigung von den Kleidern bedeckt sein mußten. -- Während in der Schneiderfamilie die Beziehungen so hinliefen, hatte im Pfarrhause eine entscheidende Scene Statt. Die Bäbe war früh aufgestanden und zur Bereitung des Frühstücks in die Küche gegangen. Das Bewußtsein, sich etwas Ungewöhnliches herausgenommen zu haben und deßwegen zur Rede gestellt werden zu können, äußerte sich in einer eigenen Mischung von Ergebung und Gefaßtheit. In ihrem Bette erwachend, hatte sie die Vorgänge der gestrigen Nacht erwogen, und es war ihr möglich, ja wahrscheinlich vorgekommen, daß die Pfarrerin nichts Bestimmtes wußte, sie nicht wirklich gesehen, sondern nur etwas gehört und etwas geargwöhnt hatte. In diesem Falle war ihr nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um des Geliebten willen ein bestimmtes Benehmen vorgezeichnet, und sie beschloß es genau einzuhalten. Wie sie dem geistlichen Ehepaar den Kaffee in die Stube brachte, grüßte sie wie sonst, und nur die Pfarrerin, deren Augen durch Einsicht geschärft waren, be- Glieder ganz leicht — an nichts konnte man sehen, was ihm gestern passirt war. — Nach dem letzten Gedanken erhellte sich übrigens das Gesicht des Alten mit einem eigenen Lächeln. Es war ihm eingefallen, daß er nach den ersten Ohrfeigen dem zu Boden Geworfenen hauptsächlich die Schultern und den Rücken der ganzen Länge nach bearbeitet hatte und demgemäß die Folgen der Züchtigung von den Kleidern bedeckt sein mußten. — Während in der Schneiderfamilie die Beziehungen so hinliefen, hatte im Pfarrhause eine entscheidende Scene Statt. Die Bäbe war früh aufgestanden und zur Bereitung des Frühstücks in die Küche gegangen. Das Bewußtsein, sich etwas Ungewöhnliches herausgenommen zu haben und deßwegen zur Rede gestellt werden zu können, äußerte sich in einer eigenen Mischung von Ergebung und Gefaßtheit. In ihrem Bette erwachend, hatte sie die Vorgänge der gestrigen Nacht erwogen, und es war ihr möglich, ja wahrscheinlich vorgekommen, daß die Pfarrerin nichts Bestimmtes wußte, sie nicht wirklich gesehen, sondern nur etwas gehört und etwas geargwöhnt hatte. In diesem Falle war ihr nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um des Geliebten willen ein bestimmtes Benehmen vorgezeichnet, und sie beschloß es genau einzuhalten. Wie sie dem geistlichen Ehepaar den Kaffee in die Stube brachte, grüßte sie wie sonst, und nur die Pfarrerin, deren Augen durch Einsicht geschärft waren, be- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0120"/> Glieder ganz leicht — an nichts konnte man sehen, was ihm gestern passirt war. — Nach dem letzten Gedanken erhellte sich übrigens das Gesicht des Alten mit einem eigenen Lächeln. Es war ihm eingefallen, daß er nach den ersten Ohrfeigen dem zu Boden Geworfenen hauptsächlich die Schultern und den Rücken der ganzen Länge nach bearbeitet hatte und demgemäß die Folgen der Züchtigung von den Kleidern bedeckt sein mußten. —</p><lb/> <p>Während in der Schneiderfamilie die Beziehungen so hinliefen, hatte im Pfarrhause eine entscheidende Scene Statt.</p><lb/> <p>Die Bäbe war früh aufgestanden und zur Bereitung des Frühstücks in die Küche gegangen. Das Bewußtsein, sich etwas Ungewöhnliches herausgenommen zu haben und deßwegen zur Rede gestellt werden zu können, äußerte sich in einer eigenen Mischung von Ergebung und Gefaßtheit. In ihrem Bette erwachend, hatte sie die Vorgänge der gestrigen Nacht erwogen, und es war ihr möglich, ja wahrscheinlich vorgekommen, daß die Pfarrerin nichts Bestimmtes wußte, sie nicht wirklich gesehen, sondern nur etwas gehört und etwas geargwöhnt hatte. In diesem Falle war ihr nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um des Geliebten willen ein bestimmtes Benehmen vorgezeichnet, und sie beschloß es genau einzuhalten.</p><lb/> <p>Wie sie dem geistlichen Ehepaar den Kaffee in die Stube brachte, grüßte sie wie sonst, und nur die Pfarrerin, deren Augen durch Einsicht geschärft waren, be-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0120]
Glieder ganz leicht — an nichts konnte man sehen, was ihm gestern passirt war. — Nach dem letzten Gedanken erhellte sich übrigens das Gesicht des Alten mit einem eigenen Lächeln. Es war ihm eingefallen, daß er nach den ersten Ohrfeigen dem zu Boden Geworfenen hauptsächlich die Schultern und den Rücken der ganzen Länge nach bearbeitet hatte und demgemäß die Folgen der Züchtigung von den Kleidern bedeckt sein mußten. —
Während in der Schneiderfamilie die Beziehungen so hinliefen, hatte im Pfarrhause eine entscheidende Scene Statt.
Die Bäbe war früh aufgestanden und zur Bereitung des Frühstücks in die Küche gegangen. Das Bewußtsein, sich etwas Ungewöhnliches herausgenommen zu haben und deßwegen zur Rede gestellt werden zu können, äußerte sich in einer eigenen Mischung von Ergebung und Gefaßtheit. In ihrem Bette erwachend, hatte sie die Vorgänge der gestrigen Nacht erwogen, und es war ihr möglich, ja wahrscheinlich vorgekommen, daß die Pfarrerin nichts Bestimmtes wußte, sie nicht wirklich gesehen, sondern nur etwas gehört und etwas geargwöhnt hatte. In diesem Falle war ihr nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch um des Geliebten willen ein bestimmtes Benehmen vorgezeichnet, und sie beschloß es genau einzuhalten.
Wie sie dem geistlichen Ehepaar den Kaffee in die Stube brachte, grüßte sie wie sonst, und nur die Pfarrerin, deren Augen durch Einsicht geschärft waren, be-
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