Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.tüchtigem Knochenbau und einer Muskelkraft, der schon in seiner Jugend keiner seiner Altersgenossen zu widerstehen vermochte. Er wurde Schneider, weil es sein Vater war, trieb aber das Handwerk in gesunder Abwechselung mit der Landwirtschaft, und es bekam ihm, und er behauptete den Ruf, den er sich als lediger Bursch im Meistern und ernstlichen Faustkampf erworben hatte, bis in sein reiferes Alter. Als einst ein reicher Bauer aus dem untern Ries, den ein Geschäft ins Dorf und der Durst ins Wirthshaus geführt hatte, nach Vertilgung der zweiten Maß Braunes den Mann mit einem gewissen Hochmuth anredete und, von der rücksichtslosen Erwiderung beleidigt, ihn verächtlich als "Schneider" behandelte und schmähte, erhob sich unser Mann, packte ihn und warf ihn zur Thüre hinaus. Schäumend vor Wuth, obschon etwas hinkend, drang der Bauer wieder herein und wollte auf den Frechen losgehen; Bekannte traten dazwischen. Was, schrie der Gedemüthigte, von einem Schneider soll ich mir so was gefallen lassen? -- Ja, das ist halt einmal ein solcher, entgegnete man ihm, und der Bauer konnte nichts thun, als schimpfend einspannen lassen und davon fahren, während Eber schmunzelnd seine Maß austrank und noch eine zweite kommen ließ "auf den Schrecken." Das Siegesgefühl, das aus seinen Mienen sprach, hatte nun doch einen besondern Charakter. Ein Schmied oder Zimmermann hätte durch eine solche That nur das Ordentliche gethan, der Schneider that das Außerordent- tüchtigem Knochenbau und einer Muskelkraft, der schon in seiner Jugend keiner seiner Altersgenossen zu widerstehen vermochte. Er wurde Schneider, weil es sein Vater war, trieb aber das Handwerk in gesunder Abwechselung mit der Landwirtschaft, und es bekam ihm, und er behauptete den Ruf, den er sich als lediger Bursch im Meistern und ernstlichen Faustkampf erworben hatte, bis in sein reiferes Alter. Als einst ein reicher Bauer aus dem untern Ries, den ein Geschäft ins Dorf und der Durst ins Wirthshaus geführt hatte, nach Vertilgung der zweiten Maß Braunes den Mann mit einem gewissen Hochmuth anredete und, von der rücksichtslosen Erwiderung beleidigt, ihn verächtlich als „Schneider“ behandelte und schmähte, erhob sich unser Mann, packte ihn und warf ihn zur Thüre hinaus. Schäumend vor Wuth, obschon etwas hinkend, drang der Bauer wieder herein und wollte auf den Frechen losgehen; Bekannte traten dazwischen. Was, schrie der Gedemüthigte, von einem Schneider soll ich mir so was gefallen lassen? — Ja, das ist halt einmal ein solcher, entgegnete man ihm, und der Bauer konnte nichts thun, als schimpfend einspannen lassen und davon fahren, während Eber schmunzelnd seine Maß austrank und noch eine zweite kommen ließ „auf den Schrecken.“ Das Siegesgefühl, das aus seinen Mienen sprach, hatte nun doch einen besondern Charakter. Ein Schmied oder Zimmermann hätte durch eine solche That nur das Ordentliche gethan, der Schneider that das Außerordent- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0010"/> tüchtigem Knochenbau und einer Muskelkraft, der schon in seiner Jugend keiner seiner Altersgenossen zu widerstehen vermochte. Er wurde Schneider, weil es sein Vater war, trieb aber das Handwerk in gesunder Abwechselung mit der Landwirtschaft, und es bekam ihm, und er behauptete den Ruf, den er sich als lediger Bursch im Meistern und ernstlichen Faustkampf erworben hatte, bis in sein reiferes Alter. Als einst ein reicher Bauer aus dem untern Ries, den ein Geschäft ins Dorf und der Durst ins Wirthshaus geführt hatte, nach Vertilgung der zweiten Maß Braunes den Mann mit einem gewissen Hochmuth anredete und, von der rücksichtslosen Erwiderung beleidigt, ihn verächtlich als „Schneider“ behandelte und schmähte, erhob sich unser Mann, packte ihn und warf ihn zur Thüre hinaus. Schäumend vor Wuth, obschon etwas hinkend, drang der Bauer wieder herein und wollte auf den Frechen losgehen; Bekannte traten dazwischen. Was, schrie der Gedemüthigte, von einem Schneider soll ich mir so was gefallen lassen? — Ja, das ist halt einmal ein solcher, entgegnete man ihm, und der Bauer konnte nichts thun, als schimpfend einspannen lassen und davon fahren, während Eber schmunzelnd seine Maß austrank und noch eine zweite kommen ließ „auf den Schrecken.“ Das Siegesgefühl, das aus seinen Mienen sprach, hatte nun doch einen besondern Charakter. Ein Schmied oder Zimmermann hätte durch eine solche That nur das Ordentliche gethan, der Schneider that das Außerordent-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
tüchtigem Knochenbau und einer Muskelkraft, der schon in seiner Jugend keiner seiner Altersgenossen zu widerstehen vermochte. Er wurde Schneider, weil es sein Vater war, trieb aber das Handwerk in gesunder Abwechselung mit der Landwirtschaft, und es bekam ihm, und er behauptete den Ruf, den er sich als lediger Bursch im Meistern und ernstlichen Faustkampf erworben hatte, bis in sein reiferes Alter. Als einst ein reicher Bauer aus dem untern Ries, den ein Geschäft ins Dorf und der Durst ins Wirthshaus geführt hatte, nach Vertilgung der zweiten Maß Braunes den Mann mit einem gewissen Hochmuth anredete und, von der rücksichtslosen Erwiderung beleidigt, ihn verächtlich als „Schneider“ behandelte und schmähte, erhob sich unser Mann, packte ihn und warf ihn zur Thüre hinaus. Schäumend vor Wuth, obschon etwas hinkend, drang der Bauer wieder herein und wollte auf den Frechen losgehen; Bekannte traten dazwischen. Was, schrie der Gedemüthigte, von einem Schneider soll ich mir so was gefallen lassen? — Ja, das ist halt einmal ein solcher, entgegnete man ihm, und der Bauer konnte nichts thun, als schimpfend einspannen lassen und davon fahren, während Eber schmunzelnd seine Maß austrank und noch eine zweite kommen ließ „auf den Schrecken.“ Das Siegesgefühl, das aus seinen Mienen sprach, hatte nun doch einen besondern Charakter. Ein Schmied oder Zimmermann hätte durch eine solche That nur das Ordentliche gethan, der Schneider that das Außerordent-
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/10>, abgerufen am 16.07.2024. |