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Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.

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Thaten der Gnade. I. Stück.

So bald sie sich auf ihr Lager geleget,
so liesse sie den Prediger zu sich rufen, wel-
cher sie auch nach geendetem Nachmittags-
Gottesdienste besuchte, aber sich nicht wenig
verwunderte, da er sie so schwach und kraft-
los in ihrem Bette antrafe, nachdem er sie
in der Morgenpredigt noch so frisch und ge-
sund gesehen hatte. Kaum erblickte sie ih-
ren Seelsorger in die Stube tretten, so hu-
be sie ihre Hände mit grossem Ernst gegen
den Himmel auf, und redete ihn mit star-
ker Bewegung also an: O mein lieber
Herr Pfarrer! Jetzt will ich reden;
wenn die ganze Welt auch da wäre,
so wollte ich mich nicht scheuen.
Sie
erzählte darauf alles, was der Heyland an
ihrer Seele seint einigen Jahren, unter der
vorbereitenden Gnade gethan habe, und
wie sie sich dabey verhalten, insonderheit,
wie der HErr JEsus auf eine so ausseror-
dentliche Weise sich in der Morgenpredigt
ihrer Seele geoffenbaret, und bate angele-
gen um einen Rath, und um nöthige An-
weisung, wie sie sich bey ihren gegenwärti-
gen Umständen zu verhalten habe.

So lässet man die sündliche Blödig-
keit und unzeitige Schamhaftigkeit fahren,
wenn es recht Ernst giltet: So lehret der
verschlossene Mund reden, so wird die stum-
me Zunge gelöset, wenn man sich zwischen

Tod
C 3
Thaten der Gnade. I. Stuͤck.

So bald ſie ſich auf ihr Lager geleget,
ſo lieſſe ſie den Prediger zu ſich rufen, wel-
cher ſie auch nach geendetem Nachmittags-
Gottesdienſte beſuchte, aber ſich nicht wenig
verwunderte, da er ſie ſo ſchwach und kraft-
los in ihrem Bette antrafe, nachdem er ſie
in der Morgenpredigt noch ſo friſch und ge-
ſund geſehen hatte. Kaum erblickte ſie ih-
ren Seelſorger in die Stube tretten, ſo hu-
be ſie ihre Haͤnde mit groſſem Ernſt gegen
den Himmel auf, und redete ihn mit ſtar-
ker Bewegung alſo an: O mein lieber
Herr Pfarrer! Jetzt will ich reden;
wenn die ganze Welt auch da waͤre,
ſo wollte ich mich nicht ſcheuen.
Sie
erzaͤhlte darauf alles, was der Heyland an
ihrer Seele ſeint einigen Jahren, unter der
vorbereitenden Gnade gethan habe, und
wie ſie ſich dabey verhalten, inſonderheit,
wie der HErr JEſus auf eine ſo auſſeror-
dentliche Weiſe ſich in der Morgenpredigt
ihrer Seele geoffenbaret, und bate angele-
gen um einen Rath, und um noͤthige An-
weiſung, wie ſie ſich bey ihren gegenwaͤrti-
gen Umſtaͤnden zu verhalten habe.

So laͤſſet man die ſuͤndliche Bloͤdig-
keit und unzeitige Schamhaftigkeit fahren,
wenn es recht Ernſt giltet: So lehret der
verſchloſſene Mund reden, ſo wird die ſtum-
me Zunge geloͤſet, wenn man ſich zwiſchen

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C 3
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[37/0089] Thaten der Gnade. I. Stuͤck. So bald ſie ſich auf ihr Lager geleget, ſo lieſſe ſie den Prediger zu ſich rufen, wel- cher ſie auch nach geendetem Nachmittags- Gottesdienſte beſuchte, aber ſich nicht wenig verwunderte, da er ſie ſo ſchwach und kraft- los in ihrem Bette antrafe, nachdem er ſie in der Morgenpredigt noch ſo friſch und ge- ſund geſehen hatte. Kaum erblickte ſie ih- ren Seelſorger in die Stube tretten, ſo hu- be ſie ihre Haͤnde mit groſſem Ernſt gegen den Himmel auf, und redete ihn mit ſtar- ker Bewegung alſo an: O mein lieber Herr Pfarrer! Jetzt will ich reden; wenn die ganze Welt auch da waͤre, ſo wollte ich mich nicht ſcheuen. Sie erzaͤhlte darauf alles, was der Heyland an ihrer Seele ſeint einigen Jahren, unter der vorbereitenden Gnade gethan habe, und wie ſie ſich dabey verhalten, inſonderheit, wie der HErr JEſus auf eine ſo auſſeror- dentliche Weiſe ſich in der Morgenpredigt ihrer Seele geoffenbaret, und bate angele- gen um einen Rath, und um noͤthige An- weiſung, wie ſie ſich bey ihren gegenwaͤrti- gen Umſtaͤnden zu verhalten habe. So laͤſſet man die ſuͤndliche Bloͤdig- keit und unzeitige Schamhaftigkeit fahren, wenn es recht Ernſt giltet: So lehret der verſchloſſene Mund reden, ſo wird die ſtum- me Zunge geloͤſet, wenn man ſich zwiſchen Tod C 3

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Zitationshilfe: Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/89>, abgerufen am 28.04.2024.