Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

die Psychologie auf dem poetischen, wie auf dem wis¬
senschaftlichen Gebiet, und an die Untersuchungen vom
Hemsterhuis, Hume, Locke, Burke reihten sich die
psychologischen Romane von Richardson, Fielding,
Goldsmith, Sterne, Smollet. Die Engländer übten
damals einen großen Einfluß auf die Romanenlite¬
ratur des übrigen Europa, wie jetzt durch Walter
Scott. Selbst die Franzosen führten den psycholo¬
gischen Roman bei sich ein, le Sage, Scarron, Di¬
derot, und in gewißem Sinn Rousseau. Die Deut¬
schen folgten bald thätig nach.

Der psychologische Roman, der denselben Ur¬
sprung und Weg nahm; wie später der historische,
war auch in der That nur ein Vorläufer des histo¬
rischen. Er schob die allgemeine philosophische Ge¬
schichte des Menschen voran, ein Jahrhundert später
folgte die nationelle oder eigentliche Geschichte nach.
Das Thema des psychologischen Romans war der
Mensch als Individuum oder als allgemeine Abstrak¬
tion, das des historischen Romans ist der Mensch in
der Gattung, in Nationen, Ständen, Örtlichkeiten
und Zeitaltern.

Weil der psychologische Roman unmittelbar auf
den Liebesroman folgte, spielte die Liebe darin noch
eine große Rolle. Doch sie ward mehr objectiv auf¬
gefaßt, als bisher; man verfolgte scharfsinnig und
mit Feinheit ihre psychologischen Erscheinungen, mehr
um ein wohlgetroffenes Bild der menschlichen Seele
in ihren Schwächen und geheimen Falten zu geben,

die Pſychologie auf dem poetiſchen, wie auf dem wiſ¬
ſenſchaftlichen Gebiet, und an die Unterſuchungen vom
Hemſterhuis, Hume, Locke, Burke reihten ſich die
pſychologiſchen Romane von Richardſon, Fielding,
Goldſmith, Sterne, Smollet. Die Englaͤnder uͤbten
damals einen großen Einfluß auf die Romanenlite¬
ratur des uͤbrigen Europa, wie jetzt durch Walter
Scott. Selbſt die Franzoſen fuͤhrten den pſycholo¬
giſchen Roman bei ſich ein, le Sage, Scarron, Di¬
derot, und in gewißem Sinn Rouſſeau. Die Deut¬
ſchen folgten bald thaͤtig nach.

Der pſychologiſche Roman, der denſelben Ur¬
ſprung und Weg nahm; wie ſpaͤter der hiſtoriſche,
war auch in der That nur ein Vorlaͤufer des hiſto¬
riſchen. Er ſchob die allgemeine philoſophiſche Ge¬
ſchichte des Menſchen voran, ein Jahrhundert ſpaͤter
folgte die nationelle oder eigentliche Geſchichte nach.
Das Thema des pſychologiſchen Romans war der
Menſch als Individuum oder als allgemeine Abſtrak¬
tion, das des hiſtoriſchen Romans iſt der Menſch in
der Gattung, in Nationen, Staͤnden, Örtlichkeiten
und Zeitaltern.

Weil der pſychologiſche Roman unmittelbar auf
den Liebesroman folgte, ſpielte die Liebe darin noch
eine große Rolle. Doch ſie ward mehr objectiv auf¬
gefaßt, als bisher; man verfolgte ſcharfſinnig und
mit Feinheit ihre pſychologiſchen Erſcheinungen, mehr
um ein wohlgetroffenes Bild der menſchlichen Seele
in ihren Schwaͤchen und geheimen Falten zu geben,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0291" n="281"/>
die P&#x017F;ychologie auf dem poeti&#x017F;chen, wie auf dem wi&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Gebiet, und an die Unter&#x017F;uchungen vom<lb/>
Hem&#x017F;terhuis, Hume, Locke, Burke reihten &#x017F;ich die<lb/>
p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Romane von Richard&#x017F;on, Fielding,<lb/>
Gold&#x017F;mith, Sterne, Smollet. Die Engla&#x0364;nder u&#x0364;bten<lb/>
damals einen großen Einfluß auf die Romanenlite¬<lb/>
ratur des u&#x0364;brigen Europa, wie jetzt durch Walter<lb/>
Scott. Selb&#x017F;t die Franzo&#x017F;en fu&#x0364;hrten den p&#x017F;ycholo¬<lb/>
gi&#x017F;chen Roman bei &#x017F;ich ein, le Sage, Scarron, Di¬<lb/>
derot, und in gewißem Sinn Rou&#x017F;&#x017F;eau. Die Deut¬<lb/>
&#x017F;chen folgten bald tha&#x0364;tig nach.</p><lb/>
        <p>Der p&#x017F;ychologi&#x017F;che Roman, der den&#x017F;elben Ur¬<lb/>
&#x017F;prung und Weg nahm; wie &#x017F;pa&#x0364;ter der hi&#x017F;tori&#x017F;che,<lb/>
war auch in der That nur ein Vorla&#x0364;ufer des hi&#x017F;to¬<lb/>
ri&#x017F;chen. Er &#x017F;chob die allgemeine philo&#x017F;ophi&#x017F;che Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen voran, ein Jahrhundert &#x017F;pa&#x0364;ter<lb/>
folgte die nationelle oder eigentliche Ge&#x017F;chichte nach.<lb/>
Das Thema des p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Romans war der<lb/>
Men&#x017F;ch als Individuum oder als allgemeine Ab&#x017F;trak¬<lb/>
tion, das des hi&#x017F;tori&#x017F;chen Romans i&#x017F;t der Men&#x017F;ch in<lb/>
der Gattung, in Nationen, Sta&#x0364;nden, Örtlichkeiten<lb/>
und Zeitaltern.</p><lb/>
        <p>Weil der p&#x017F;ychologi&#x017F;che Roman unmittelbar auf<lb/>
den Liebesroman folgte, &#x017F;pielte die Liebe darin noch<lb/>
eine große Rolle. Doch &#x017F;ie ward mehr objectiv auf¬<lb/>
gefaßt, als bisher; man verfolgte &#x017F;charf&#x017F;innig und<lb/>
mit Feinheit ihre p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Er&#x017F;cheinungen, mehr<lb/>
um ein wohlgetroffenes Bild der men&#x017F;chlichen Seele<lb/>
in ihren Schwa&#x0364;chen und geheimen Falten zu geben,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0291] die Pſychologie auf dem poetiſchen, wie auf dem wiſ¬ ſenſchaftlichen Gebiet, und an die Unterſuchungen vom Hemſterhuis, Hume, Locke, Burke reihten ſich die pſychologiſchen Romane von Richardſon, Fielding, Goldſmith, Sterne, Smollet. Die Englaͤnder uͤbten damals einen großen Einfluß auf die Romanenlite¬ ratur des uͤbrigen Europa, wie jetzt durch Walter Scott. Selbſt die Franzoſen fuͤhrten den pſycholo¬ giſchen Roman bei ſich ein, le Sage, Scarron, Di¬ derot, und in gewißem Sinn Rouſſeau. Die Deut¬ ſchen folgten bald thaͤtig nach. Der pſychologiſche Roman, der denſelben Ur¬ ſprung und Weg nahm; wie ſpaͤter der hiſtoriſche, war auch in der That nur ein Vorlaͤufer des hiſto¬ riſchen. Er ſchob die allgemeine philoſophiſche Ge¬ ſchichte des Menſchen voran, ein Jahrhundert ſpaͤter folgte die nationelle oder eigentliche Geſchichte nach. Das Thema des pſychologiſchen Romans war der Menſch als Individuum oder als allgemeine Abſtrak¬ tion, das des hiſtoriſchen Romans iſt der Menſch in der Gattung, in Nationen, Staͤnden, Örtlichkeiten und Zeitaltern. Weil der pſychologiſche Roman unmittelbar auf den Liebesroman folgte, ſpielte die Liebe darin noch eine große Rolle. Doch ſie ward mehr objectiv auf¬ gefaßt, als bisher; man verfolgte ſcharfſinnig und mit Feinheit ihre pſychologiſchen Erſcheinungen, mehr um ein wohlgetroffenes Bild der menſchlichen Seele in ihren Schwaͤchen und geheimen Falten zu geben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/291
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/291>, abgerufen am 17.05.2024.