Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.Poesie in den Schatten stellen. Es ist gut und schön, Das innerste Wesen des historischen Romans Deutsche Literatur. II. 8
Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn, Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans Deutſche Literatur. II. 8
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0179" n="169"/> Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn,<lb/> wenn wir uns uͤber die beſchraͤnkten Lebenskreiſe ein¬<lb/> zelner Zeiten und Voͤlker zum Idealen erheben koͤn¬<lb/> nen, aber die naive, kindliche, glaͤubige Weltanſicht,<lb/> die in jenem engen Kreiſe befangen bleibt, die Illu¬<lb/> ſion beſchraͤnkter Nationalitaͤten, Gegenden, Klimate,<lb/> Kulturſtufen und Zeitalter behaͤlt ihren hochpoetiſchen<lb/> Werth nicht nur fuͤr die Befangenen, ſondern auch<lb/> fuͤr alle, die daruͤber ſtehn, und gleichſam in die<lb/> Kindheit des Menſchengeſchlechts zuruͤckblicken.</p><lb/> <p>Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans<lb/> iſt in etwas ganz anderem zu ſuchen, als worin die<lb/> hiſtoriſchen Darſtellungen bisher befangen geweſen<lb/> ſind. Im Drama hat man die Geſchichte bloß zu<lb/> einer Probe der menſchlichen Kraft, und zur Folie<lb/> der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine goͤtt¬<lb/> liche Vorſehung uͤber der Geſchichte angenommen, und<lb/> die Proſa der Wirklichkeit durch Wunder von oben<lb/> einigermaßen erfriſcht und belebt. Dort ſtand der<lb/> Menſch frei auſſer der Geſchichte und ihr kaͤmpfend<lb/> gegenuͤber, hier aber fuͤgte die Gottheit die Geſchichte<lb/> ebenfalls von auſſen, und behandelte ſie als einen tod¬<lb/> ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der hiſto¬<lb/> riſche Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott<lb/> ihn aufgefaßt. Hier iſt der Menſch nur ein Product<lb/> der Geſchichte, gleichſam eine Bluͤthe, die aus ihrer<lb/> Mitte hervorvegetirt, von ihren Saͤften genaͤhrt, und<lb/> von ihren geheimen Kraͤften feſtgehalten. Aber auch<lb/> die Gottheit iſt nicht getrennt von dem in der Ge¬<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Deutſche Literatur. <hi rendition="#aq">II</hi>. 8<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [169/0179]
Poeſie in den Schatten ſtellen. Es iſt gut und ſchoͤn,
wenn wir uns uͤber die beſchraͤnkten Lebenskreiſe ein¬
zelner Zeiten und Voͤlker zum Idealen erheben koͤn¬
nen, aber die naive, kindliche, glaͤubige Weltanſicht,
die in jenem engen Kreiſe befangen bleibt, die Illu¬
ſion beſchraͤnkter Nationalitaͤten, Gegenden, Klimate,
Kulturſtufen und Zeitalter behaͤlt ihren hochpoetiſchen
Werth nicht nur fuͤr die Befangenen, ſondern auch
fuͤr alle, die daruͤber ſtehn, und gleichſam in die
Kindheit des Menſchengeſchlechts zuruͤckblicken.
Das innerſte Weſen des hiſtoriſchen Romans
iſt in etwas ganz anderem zu ſuchen, als worin die
hiſtoriſchen Darſtellungen bisher befangen geweſen
ſind. Im Drama hat man die Geſchichte bloß zu
einer Probe der menſchlichen Kraft, und zur Folie
der Ideale gemacht. Im Epos hat man eine goͤtt¬
liche Vorſehung uͤber der Geſchichte angenommen, und
die Proſa der Wirklichkeit durch Wunder von oben
einigermaßen erfriſcht und belebt. Dort ſtand der
Menſch frei auſſer der Geſchichte und ihr kaͤmpfend
gegenuͤber, hier aber fuͤgte die Gottheit die Geſchichte
ebenfalls von auſſen, und behandelte ſie als einen tod¬
ten Stoff. Etwas ganz anderes zeigt uns der hiſto¬
riſche Roman, in dem Sinne, wie Walter Scott
ihn aufgefaßt. Hier iſt der Menſch nur ein Product
der Geſchichte, gleichſam eine Bluͤthe, die aus ihrer
Mitte hervorvegetirt, von ihren Saͤften genaͤhrt, und
von ihren geheimen Kraͤften feſtgehalten. Aber auch
die Gottheit iſt nicht getrennt von dem in der Ge¬
Deutſche Literatur. II. 8
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |