Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

darauf ankam, in ihm irgend ein Ideal aufzustellen.
Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt
wurden geschildert, aber auch nur, weil sich eine
Lehre daraus ziehen ließ. Überall diente die Ge¬
schichte höhern Zwecken, sie wurde nicht selbstständig,
frei, rein um ihrer selbst willen von den Dichtern
behandelt, man suchte darin nur Stoffe, um sie mit
einem fremden Geist zu beleben, nicht den ihr eige¬
nen Geist. Die Historienmalerei war in der italie¬
nischen Schule befangen, und idealisirte nur. Die
Geschichte lag wie ein großer wilder Garten vor den
Dichtern ausgebreitet, aber sie suchten nur hier nach
den schönsten Blumen der Unschuld und Tugend, dort
nach den heilsamsten Kräutern sittlicher Lehren und
nach den Riesenbäumen großer Charaktere. Ein Land¬
schaftmaler mußte kommen, und unschuldig und
naiv an allem sich laben, was in dem großen Gar¬
ten durcheinander rankte, und dieß war Walter
Scott. Er zuerst wendete den sinnigen Blick von den
glänzenden Hauptpartien der Geschichte auch auf
die unscheinbaren Winkel derselben, und suchte nichts
besondres darin, sondern nahm alles, wie es war,
und siehe, es war poetisch. Es gibt allerdings eine
naive Ansicht der Geschichte die sie in allen ihren
natürlichen Erscheinungen auffassen und den darin
waltenden Geist, die stille wunderbare Vegetations¬
kraft der Nationen an und für sich poetisch finden
kann und muß, ohne die Poesie von höhern Idealen
entlehnen zu dürfen, die nur zu oft diese natürliche

darauf ankam, in ihm irgend ein Ideal aufzuſtellen.
Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt
wurden geſchildert, aber auch nur, weil ſich eine
Lehre daraus ziehen ließ. Überall diente die Ge¬
ſchichte hoͤhern Zwecken, ſie wurde nicht ſelbſtſtaͤndig,
frei, rein um ihrer ſelbſt willen von den Dichtern
behandelt, man ſuchte darin nur Stoffe, um ſie mit
einem fremden Geiſt zu beleben, nicht den ihr eige¬
nen Geiſt. Die Hiſtorienmalerei war in der italie¬
niſchen Schule befangen, und idealiſirte nur. Die
Geſchichte lag wie ein großer wilder Garten vor den
Dichtern ausgebreitet, aber ſie ſuchten nur hier nach
den ſchoͤnſten Blumen der Unſchuld und Tugend, dort
nach den heilſamſten Kraͤutern ſittlicher Lehren und
nach den Rieſenbaͤumen großer Charaktere. Ein Land¬
ſchaftmaler mußte kommen, und unſchuldig und
naiv an allem ſich laben, was in dem großen Gar¬
ten durcheinander rankte, und dieß war Walter
Scott. Er zuerſt wendete den ſinnigen Blick von den
glaͤnzenden Hauptpartien der Geſchichte auch auf
die unſcheinbaren Winkel derſelben, und ſuchte nichts
beſondres darin, ſondern nahm alles, wie es war,
und ſiehe, es war poetiſch. Es gibt allerdings eine
naive Anſicht der Geſchichte die ſie in allen ihren
natuͤrlichen Erſcheinungen auffaſſen und den darin
waltenden Geiſt, die ſtille wunderbare Vegetations¬
kraft der Nationen an und fuͤr ſich poetiſch finden
kann und muß, ohne die Poeſie von hoͤhern Idealen
entlehnen zu duͤrfen, die nur zu oft dieſe natuͤrliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0178" n="168"/>
darauf ankam, in ihm irgend ein Ideal aufzu&#x017F;tellen.<lb/>
Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt<lb/>
wurden ge&#x017F;childert, aber auch nur, weil &#x017F;ich eine<lb/>
Lehre daraus ziehen ließ. Überall diente die Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte ho&#x0364;hern Zwecken, &#x017F;ie wurde nicht &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndig,<lb/>
frei, rein um ihrer &#x017F;elb&#x017F;t willen von den Dichtern<lb/>
behandelt, man &#x017F;uchte darin nur Stoffe, um &#x017F;ie mit<lb/>
einem fremden Gei&#x017F;t zu beleben, nicht den ihr eige¬<lb/>
nen Gei&#x017F;t. Die Hi&#x017F;torienmalerei war in der italie¬<lb/>
ni&#x017F;chen Schule befangen, und ideali&#x017F;irte nur. Die<lb/>
Ge&#x017F;chichte lag wie ein großer wilder Garten vor den<lb/>
Dichtern ausgebreitet, aber &#x017F;ie &#x017F;uchten nur hier nach<lb/>
den &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Blumen der Un&#x017F;chuld und Tugend, dort<lb/>
nach den heil&#x017F;am&#x017F;ten Kra&#x0364;utern &#x017F;ittlicher Lehren und<lb/>
nach den Rie&#x017F;enba&#x0364;umen großer Charaktere. Ein Land¬<lb/>
&#x017F;chaftmaler mußte kommen, und un&#x017F;chuldig und<lb/>
naiv an allem &#x017F;ich laben, was in dem großen Gar¬<lb/>
ten durcheinander rankte, und dieß war Walter<lb/>
Scott. Er zuer&#x017F;t wendete den &#x017F;innigen Blick von den<lb/>
gla&#x0364;nzenden Hauptpartien der Ge&#x017F;chichte auch auf<lb/>
die un&#x017F;cheinbaren Winkel der&#x017F;elben, und &#x017F;uchte nichts<lb/>
be&#x017F;ondres darin, &#x017F;ondern nahm alles, wie es war,<lb/>
und &#x017F;iehe, es war poeti&#x017F;ch. Es gibt allerdings eine<lb/>
naive An&#x017F;icht der Ge&#x017F;chichte die &#x017F;ie in allen ihren<lb/>
natu&#x0364;rlichen Er&#x017F;cheinungen auffa&#x017F;&#x017F;en und den darin<lb/>
waltenden Gei&#x017F;t, die &#x017F;tille wunderbare Vegetations¬<lb/>
kraft der Nationen an und fu&#x0364;r &#x017F;ich poeti&#x017F;ch finden<lb/>
kann und muß, ohne die Poe&#x017F;ie von ho&#x0364;hern Idealen<lb/>
entlehnen zu du&#x0364;rfen, die nur zu oft die&#x017F;e natu&#x0364;rliche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0178] darauf ankam, in ihm irgend ein Ideal aufzuſtellen. Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt wurden geſchildert, aber auch nur, weil ſich eine Lehre daraus ziehen ließ. Überall diente die Ge¬ ſchichte hoͤhern Zwecken, ſie wurde nicht ſelbſtſtaͤndig, frei, rein um ihrer ſelbſt willen von den Dichtern behandelt, man ſuchte darin nur Stoffe, um ſie mit einem fremden Geiſt zu beleben, nicht den ihr eige¬ nen Geiſt. Die Hiſtorienmalerei war in der italie¬ niſchen Schule befangen, und idealiſirte nur. Die Geſchichte lag wie ein großer wilder Garten vor den Dichtern ausgebreitet, aber ſie ſuchten nur hier nach den ſchoͤnſten Blumen der Unſchuld und Tugend, dort nach den heilſamſten Kraͤutern ſittlicher Lehren und nach den Rieſenbaͤumen großer Charaktere. Ein Land¬ ſchaftmaler mußte kommen, und unſchuldig und naiv an allem ſich laben, was in dem großen Gar¬ ten durcheinander rankte, und dieß war Walter Scott. Er zuerſt wendete den ſinnigen Blick von den glaͤnzenden Hauptpartien der Geſchichte auch auf die unſcheinbaren Winkel derſelben, und ſuchte nichts beſondres darin, ſondern nahm alles, wie es war, und ſiehe, es war poetiſch. Es gibt allerdings eine naive Anſicht der Geſchichte die ſie in allen ihren natuͤrlichen Erſcheinungen auffaſſen und den darin waltenden Geiſt, die ſtille wunderbare Vegetations¬ kraft der Nationen an und fuͤr ſich poetiſch finden kann und muß, ohne die Poeſie von hoͤhern Idealen entlehnen zu duͤrfen, die nur zu oft dieſe natuͤrliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/178
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/178>, abgerufen am 04.05.2024.