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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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im warmen Rosenlicht der Liebe und Lebenslust. Dem¬
nach sind auch die zwei größten Dichtungen Tieck's
an jene beiden Brennpunkte geknüpft. Seine Geno¬
veva und sein Octavian bilden vereinigt in einem
ellyptisch verschlungenen Ganzen, ein vollständiges
Gemälde des mittelalterlichen Geistes. Genoveva ist
die Lilie, Octavian die Rose. Mit dem Zauberstab
der Poesie schließt uns Tieck in diesen Dichtungen
die geheimsten Tiefen und Schätze einer vergangnen
Welt auf, aber diesen Zauberstab gewinnt auch nur,
wer reines Herzens ist und fromm. Diese zartesten
nnd tiefsten aller Dichtungen werden daher von dem
großen Haufen unsrer Aufgeklärten als katholische
Contrebande verfolgt, als Schwärmerei bedauert, als
Kinderei bespöttelt.

In seinen Lustspielen verfährt Tieck negativ, und
opponirt dieser falschen Aufklärung. Es sind die besten
Lustspiele, die wir haben; vom Grund aus bis zum
leisesten Zuge der Ausführung erfüllen sie alle For¬
derungen des echten Lustspiels. Da sie aber gegen
die Thorheiten unsrer Zeit gerichtet sind, wollen wir
ihrer erst bei der modernen Poesie gedenken. In sei¬
nen spätern Novellen hat Tieck sich ebenfalls mehr an
das moderne Leben angeschlossen. In allen seinen Wer¬
ken aber klingt der Grundton des Mittelalters hin¬
durch, über allen seinen Gebilden ist ein reiner tie¬
fer Himmel ausgebreitet.

Tieck steht in der lebendigen Mitte des Mittel¬
alters und der neuern Zeit, und verbindet beide,

im warmen Roſenlicht der Liebe und Lebensluſt. Dem¬
nach ſind auch die zwei groͤßten Dichtungen Tieck's
an jene beiden Brennpunkte geknuͤpft. Seine Geno¬
veva und ſein Octavian bilden vereinigt in einem
ellyptiſch verſchlungenen Ganzen, ein vollſtaͤndiges
Gemaͤlde des mittelalterlichen Geiſtes. Genoveva iſt
die Lilie, Octavian die Roſe. Mit dem Zauberſtab
der Poeſie ſchließt uns Tieck in dieſen Dichtungen
die geheimſten Tiefen und Schaͤtze einer vergangnen
Welt auf, aber dieſen Zauberſtab gewinnt auch nur,
wer reines Herzens iſt und fromm. Dieſe zarteſten
nnd tiefſten aller Dichtungen werden daher von dem
großen Haufen unſrer Aufgeklaͤrten als katholiſche
Contrebande verfolgt, als Schwaͤrmerei bedauert, als
Kinderei beſpoͤttelt.

In ſeinen Luſtſpielen verfaͤhrt Tieck negativ, und
opponirt dieſer falſchen Aufklaͤrung. Es ſind die beſten
Luſtſpiele, die wir haben; vom Grund aus bis zum
leiſeſten Zuge der Ausfuͤhrung erfuͤllen ſie alle For¬
derungen des echten Luſtſpiels. Da ſie aber gegen
die Thorheiten unſrer Zeit gerichtet ſind, wollen wir
ihrer erſt bei der modernen Poeſie gedenken. In ſei¬
nen ſpaͤtern Novellen hat Tieck ſich ebenfalls mehr an
das moderne Leben angeſchloſſen. In allen ſeinen Wer¬
ken aber klingt der Grundton des Mittelalters hin¬
durch, uͤber allen ſeinen Gebilden iſt ein reiner tie¬
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[151/0161] im warmen Roſenlicht der Liebe und Lebensluſt. Dem¬ nach ſind auch die zwei groͤßten Dichtungen Tieck's an jene beiden Brennpunkte geknuͤpft. Seine Geno¬ veva und ſein Octavian bilden vereinigt in einem ellyptiſch verſchlungenen Ganzen, ein vollſtaͤndiges Gemaͤlde des mittelalterlichen Geiſtes. Genoveva iſt die Lilie, Octavian die Roſe. Mit dem Zauberſtab der Poeſie ſchließt uns Tieck in dieſen Dichtungen die geheimſten Tiefen und Schaͤtze einer vergangnen Welt auf, aber dieſen Zauberſtab gewinnt auch nur, wer reines Herzens iſt und fromm. Dieſe zarteſten nnd tiefſten aller Dichtungen werden daher von dem großen Haufen unſrer Aufgeklaͤrten als katholiſche Contrebande verfolgt, als Schwaͤrmerei bedauert, als Kinderei beſpoͤttelt. In ſeinen Luſtſpielen verfaͤhrt Tieck negativ, und opponirt dieſer falſchen Aufklaͤrung. Es ſind die beſten Luſtſpiele, die wir haben; vom Grund aus bis zum leiſeſten Zuge der Ausfuͤhrung erfuͤllen ſie alle For¬ derungen des echten Luſtſpiels. Da ſie aber gegen die Thorheiten unſrer Zeit gerichtet ſind, wollen wir ihrer erſt bei der modernen Poeſie gedenken. In ſei¬ nen ſpaͤtern Novellen hat Tieck ſich ebenfalls mehr an das moderne Leben angeſchloſſen. In allen ſeinen Wer¬ ken aber klingt der Grundton des Mittelalters hin¬ durch, uͤber allen ſeinen Gebilden iſt ein reiner tie¬ fer Himmel ausgebreitet. Tieck ſteht in der lebendigen Mitte des Mittel¬ alters und der neuern Zeit, und verbindet beide,

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/161>, abgerufen am 03.05.2024.