Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Anbeginn der Welt, die größte und beste Sa¬
tyre, die jemals auf die Menschen gemacht worden
ist. Man sollte meinen, der Erdgeist selbst habe die¬
ses Gedicht sich zur Lust und den nach dem Höhern
strebenden Menschen zum Hohn gedichtet.

Neben Göthe's Faust glänzen in der deutschen
Literatur noch eine Menge der ausgezeichnetsten phi¬
losophischen Gedichte, so Lessing's Nathan, vor al¬
lem die neuern Novellen von Tieck und Steffens. In
vielen solcher Gedichte verschwindet das philosophi¬
sche Interesse der Idee beinah gänzlich unter dem
Poetischen der Fabel; in andern herrscht dagegen das
Philosophische vor, es sind Wissenschaften in der
Form des Romans oder Dramas, wie Julius und
Evagoras von Fries etc. Zu den letztern gehören denn
auch die eigentlichen Lehrgedichte, die naturhistori¬
schen, moralischen, philosophischen und theologischen
Betrachtungen in Versen, wie Tiedge's Urania und
dergleichen.

Die eigentlich romantische, mittelalterliche und
wieder insbesondere katholische Romantik dürfen wir
wohl von allen übrigen Gattungen des Romantischen
unterscheiden, obgleich vieles von den andern Gat¬
tungen darin enthalten ist. Das Unterscheidende ist
das alterthümliche Gepräge, der Charakter des Mit¬
telalters. Die neuern Dichter, wie Tieck und Uhland,
welche dieser Gattung des Romantischen huldigen,
haben den Stoff und die Form dazu aus dem Mit¬
telalter selbst entlehnt. Ihre Dichtungen stehn in ge¬

dem Anbeginn der Welt, die groͤßte und beſte Sa¬
tyre, die jemals auf die Menſchen gemacht worden
iſt. Man ſollte meinen, der Erdgeiſt ſelbſt habe die¬
ſes Gedicht ſich zur Luſt und den nach dem Hoͤhern
ſtrebenden Menſchen zum Hohn gedichtet.

Neben Goͤthe's Fauſt glaͤnzen in der deutſchen
Literatur noch eine Menge der ausgezeichnetſten phi¬
loſophiſchen Gedichte, ſo Leſſing's Nathan, vor al¬
lem die neuern Novellen von Tieck und Steffens. In
vielen ſolcher Gedichte verſchwindet das philoſophi¬
ſche Intereſſe der Idee beinah gaͤnzlich unter dem
Poetiſchen der Fabel; in andern herrſcht dagegen das
Philoſophiſche vor, es ſind Wiſſenſchaften in der
Form des Romans oder Dramas, wie Julius und
Evagoras von Fries ꝛc. Zu den letztern gehoͤren denn
auch die eigentlichen Lehrgedichte, die naturhiſtori¬
ſchen, moraliſchen, philoſophiſchen und theologiſchen
Betrachtungen in Verſen, wie Tiedge's Urania und
dergleichen.

Die eigentlich romantiſche, mittelalterliche und
wieder insbeſondere katholiſche Romantik duͤrfen wir
wohl von allen uͤbrigen Gattungen des Romantiſchen
unterſcheiden, obgleich vieles von den andern Gat¬
tungen darin enthalten iſt. Das Unterſcheidende iſt
das alterthuͤmliche Gepraͤge, der Charakter des Mit¬
telalters. Die neuern Dichter, wie Tieck und Uhland,
welche dieſer Gattung des Romantiſchen huldigen,
haben den Stoff und die Form dazu aus dem Mit¬
telalter ſelbſt entlehnt. Ihre Dichtungen ſtehn in ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0151" n="141"/>
dem Anbeginn der Welt, die gro&#x0364;ßte und be&#x017F;te Sa¬<lb/>
tyre, die jemals auf die Men&#x017F;chen gemacht worden<lb/>
i&#x017F;t. Man &#x017F;ollte meinen, der Erdgei&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t habe die¬<lb/>
&#x017F;es Gedicht &#x017F;ich zur Lu&#x017F;t und den nach dem Ho&#x0364;hern<lb/>
&#x017F;trebenden Men&#x017F;chen zum Hohn gedichtet.</p><lb/>
        <p>Neben Go&#x0364;the's Fau&#x017F;t gla&#x0364;nzen in der deut&#x017F;chen<lb/>
Literatur noch eine Menge der ausgezeichnet&#x017F;ten phi¬<lb/>
lo&#x017F;ophi&#x017F;chen Gedichte, &#x017F;o Le&#x017F;&#x017F;ing's Nathan, vor al¬<lb/>
lem die neuern Novellen von Tieck und Steffens. In<lb/>
vielen &#x017F;olcher Gedichte ver&#x017F;chwindet das philo&#x017F;ophi¬<lb/>
&#x017F;che Intere&#x017F;&#x017F;e der Idee beinah ga&#x0364;nzlich unter dem<lb/>
Poeti&#x017F;chen der Fabel; in andern herr&#x017F;cht dagegen das<lb/>
Philo&#x017F;ophi&#x017F;che vor, es &#x017F;ind Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften in der<lb/>
Form des Romans oder Dramas, wie Julius und<lb/>
Evagoras von Fries &#xA75B;c. Zu den letztern geho&#x0364;ren denn<lb/>
auch die eigentlichen Lehrgedichte, die naturhi&#x017F;tori¬<lb/>
&#x017F;chen, morali&#x017F;chen, philo&#x017F;ophi&#x017F;chen und theologi&#x017F;chen<lb/>
Betrachtungen in Ver&#x017F;en, wie Tiedge's Urania und<lb/>
dergleichen.</p><lb/>
        <p>Die eigentlich romanti&#x017F;che, <hi rendition="#g">mittelalterliche</hi> und<lb/>
wieder insbe&#x017F;ondere katholi&#x017F;che Romantik du&#x0364;rfen wir<lb/>
wohl von allen u&#x0364;brigen Gattungen des Romanti&#x017F;chen<lb/>
unter&#x017F;cheiden, obgleich vieles von den andern Gat¬<lb/>
tungen darin enthalten i&#x017F;t. Das Unter&#x017F;cheidende i&#x017F;t<lb/>
das alterthu&#x0364;mliche Gepra&#x0364;ge, der Charakter des Mit¬<lb/>
telalters. Die neuern Dichter, wie Tieck und Uhland,<lb/>
welche die&#x017F;er Gattung des Romanti&#x017F;chen huldigen,<lb/>
haben den Stoff und die Form dazu aus dem Mit¬<lb/>
telalter &#x017F;elb&#x017F;t entlehnt. Ihre Dichtungen &#x017F;tehn in ge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0151] dem Anbeginn der Welt, die groͤßte und beſte Sa¬ tyre, die jemals auf die Menſchen gemacht worden iſt. Man ſollte meinen, der Erdgeiſt ſelbſt habe die¬ ſes Gedicht ſich zur Luſt und den nach dem Hoͤhern ſtrebenden Menſchen zum Hohn gedichtet. Neben Goͤthe's Fauſt glaͤnzen in der deutſchen Literatur noch eine Menge der ausgezeichnetſten phi¬ loſophiſchen Gedichte, ſo Leſſing's Nathan, vor al¬ lem die neuern Novellen von Tieck und Steffens. In vielen ſolcher Gedichte verſchwindet das philoſophi¬ ſche Intereſſe der Idee beinah gaͤnzlich unter dem Poetiſchen der Fabel; in andern herrſcht dagegen das Philoſophiſche vor, es ſind Wiſſenſchaften in der Form des Romans oder Dramas, wie Julius und Evagoras von Fries ꝛc. Zu den letztern gehoͤren denn auch die eigentlichen Lehrgedichte, die naturhiſtori¬ ſchen, moraliſchen, philoſophiſchen und theologiſchen Betrachtungen in Verſen, wie Tiedge's Urania und dergleichen. Die eigentlich romantiſche, mittelalterliche und wieder insbeſondere katholiſche Romantik duͤrfen wir wohl von allen uͤbrigen Gattungen des Romantiſchen unterſcheiden, obgleich vieles von den andern Gat¬ tungen darin enthalten iſt. Das Unterſcheidende iſt das alterthuͤmliche Gepraͤge, der Charakter des Mit¬ telalters. Die neuern Dichter, wie Tieck und Uhland, welche dieſer Gattung des Romantiſchen huldigen, haben den Stoff und die Form dazu aus dem Mit¬ telalter ſelbſt entlehnt. Ihre Dichtungen ſtehn in ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/151
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/151>, abgerufen am 03.05.2024.