Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

ideale Natur ist die Schöpfung des Genius. Schil¬
ler selbst sagt:

Wiederholen kann der Verstand, was da schon
gewesen,
Du nur, Genius, mehrst in der Natur die Natur.

Der Genius entwickelt aus innerer Tiefe die
höhere Menschennatur. In ihr kommt zur vollen
glühenden Blüthe, was in andern nur in den Wur¬
zeln unter der irdischen Decke schlummert. Das ist
das gewaltig überraschende Wunder in der Geschichte
der Menschen, daß unter ihnen immer neue Naturen
geboren werden, die Niemand voraus berechnet, auf
die kein hergebrachter Maaßstab paßt, mit denen
uns vielmehr die Welt selbst in einer neuen An¬
schauung wiedergeboren wird, die uns das alte ge¬
wohnte Daseyn in einem neuen Lichte, die alte Na¬
tur in einer höhern Entwicklung zeigen, und in uns
selbst das verborgene Geheimniß aufschließen, den
träumenden Keim zum Lichte wecken, Neigungen,
Kenntnisse, Tugenden, Talente in uns entwickeln,
uns bereichern, veredlen, erheben, und uns mit ei¬
nem Wort die ganze innere und äussere Natur im
Wiederschein der ihrigen auf einer höhern Stufe, in
einem neuen Zauberschein enthüllen. Diese neue
höhere Dichternatur ist seine poetische Welt, und
der Wunder größtes ist, daß diese poetischen Welten
so mannigfaltig eigenthümlich sind. Größer als die
Welt selbst sind die Welten, die in ihr wieder ge¬
boren werden. Die eine Natur blüht in tausend Na¬

ideale Natur iſt die Schoͤpfung des Genius. Schil¬
ler ſelbſt ſagt:

Wiederholen kann der Verſtand, was da ſchon
geweſen,
Du nur, Genius, mehrſt in der Natur die Natur.

Der Genius entwickelt aus innerer Tiefe die
hoͤhere Menſchennatur. In ihr kommt zur vollen
gluͤhenden Bluͤthe, was in andern nur in den Wur¬
zeln unter der irdiſchen Decke ſchlummert. Das iſt
das gewaltig uͤberraſchende Wunder in der Geſchichte
der Menſchen, daß unter ihnen immer neue Naturen
geboren werden, die Niemand voraus berechnet, auf
die kein hergebrachter Maaßſtab paßt, mit denen
uns vielmehr die Welt ſelbſt in einer neuen An¬
ſchauung wiedergeboren wird, die uns das alte ge¬
wohnte Daſeyn in einem neuen Lichte, die alte Na¬
tur in einer hoͤhern Entwicklung zeigen, und in uns
ſelbſt das verborgene Geheimniß aufſchließen, den
traͤumenden Keim zum Lichte wecken, Neigungen,
Kenntniſſe, Tugenden, Talente in uns entwickeln,
uns bereichern, veredlen, erheben, und uns mit ei¬
nem Wort die ganze innere und aͤuſſere Natur im
Wiederſchein der ihrigen auf einer hoͤhern Stufe, in
einem neuen Zauberſchein enthuͤllen. Dieſe neue
hoͤhere Dichternatur iſt ſeine poetiſche Welt, und
der Wunder groͤßtes iſt, daß dieſe poetiſchen Welten
ſo mannigfaltig eigenthuͤmlich ſind. Groͤßer als die
Welt ſelbſt ſind die Welten, die in ihr wieder ge¬
boren werden. Die eine Natur bluͤht in tauſend Na¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0130" n="120"/>
ideale Natur i&#x017F;t die Scho&#x0364;pfung des Genius. Schil¬<lb/>
ler &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;agt:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>Wiederholen kann der Ver&#x017F;tand, was da &#x017F;chon</l><lb/>
          <l>gewe&#x017F;en,</l><lb/>
          <l>Du nur, Genius, mehr&#x017F;t in der Natur die Natur.</l><lb/>
        </lg>
        <p>Der Genius entwickelt aus innerer Tiefe die<lb/>
ho&#x0364;here Men&#x017F;chennatur. In ihr kommt zur vollen<lb/>
glu&#x0364;henden Blu&#x0364;the, was in andern nur in den Wur¬<lb/>
zeln unter der irdi&#x017F;chen Decke &#x017F;chlummert. Das i&#x017F;t<lb/>
das gewaltig u&#x0364;berra&#x017F;chende Wunder in der Ge&#x017F;chichte<lb/>
der Men&#x017F;chen, daß unter ihnen immer neue Naturen<lb/>
geboren werden, die Niemand voraus berechnet, auf<lb/>
die kein hergebrachter Maaß&#x017F;tab paßt, mit denen<lb/>
uns vielmehr die Welt &#x017F;elb&#x017F;t in einer neuen An¬<lb/>
&#x017F;chauung wiedergeboren wird, die uns das alte ge¬<lb/>
wohnte Da&#x017F;eyn in einem neuen Lichte, die alte Na¬<lb/>
tur in einer ho&#x0364;hern Entwicklung zeigen, und in uns<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t das verborgene Geheimniß auf&#x017F;chließen, den<lb/>
tra&#x0364;umenden Keim zum Lichte wecken, Neigungen,<lb/>
Kenntni&#x017F;&#x017F;e, Tugenden, Talente in uns entwickeln,<lb/>
uns bereichern, veredlen, erheben, und uns mit ei¬<lb/>
nem Wort die ganze innere und a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ere Natur im<lb/>
Wieder&#x017F;chein der ihrigen auf einer ho&#x0364;hern Stufe, in<lb/>
einem neuen Zauber&#x017F;chein enthu&#x0364;llen. Die&#x017F;e neue<lb/>
ho&#x0364;here Dichternatur i&#x017F;t &#x017F;eine poeti&#x017F;che Welt, und<lb/>
der Wunder gro&#x0364;ßtes i&#x017F;t, daß die&#x017F;e poeti&#x017F;chen Welten<lb/>
&#x017F;o mannigfaltig eigenthu&#x0364;mlich &#x017F;ind. Gro&#x0364;ßer als die<lb/>
Welt &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind die Welten, die in ihr wieder ge¬<lb/>
boren werden. Die eine Natur blu&#x0364;ht in tau&#x017F;end Na¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0130] ideale Natur iſt die Schoͤpfung des Genius. Schil¬ ler ſelbſt ſagt: Wiederholen kann der Verſtand, was da ſchon geweſen, Du nur, Genius, mehrſt in der Natur die Natur. Der Genius entwickelt aus innerer Tiefe die hoͤhere Menſchennatur. In ihr kommt zur vollen gluͤhenden Bluͤthe, was in andern nur in den Wur¬ zeln unter der irdiſchen Decke ſchlummert. Das iſt das gewaltig uͤberraſchende Wunder in der Geſchichte der Menſchen, daß unter ihnen immer neue Naturen geboren werden, die Niemand voraus berechnet, auf die kein hergebrachter Maaßſtab paßt, mit denen uns vielmehr die Welt ſelbſt in einer neuen An¬ ſchauung wiedergeboren wird, die uns das alte ge¬ wohnte Daſeyn in einem neuen Lichte, die alte Na¬ tur in einer hoͤhern Entwicklung zeigen, und in uns ſelbſt das verborgene Geheimniß aufſchließen, den traͤumenden Keim zum Lichte wecken, Neigungen, Kenntniſſe, Tugenden, Talente in uns entwickeln, uns bereichern, veredlen, erheben, und uns mit ei¬ nem Wort die ganze innere und aͤuſſere Natur im Wiederſchein der ihrigen auf einer hoͤhern Stufe, in einem neuen Zauberſchein enthuͤllen. Dieſe neue hoͤhere Dichternatur iſt ſeine poetiſche Welt, und der Wunder groͤßtes iſt, daß dieſe poetiſchen Welten ſo mannigfaltig eigenthuͤmlich ſind. Groͤßer als die Welt ſelbſt ſind die Welten, die in ihr wieder ge¬ boren werden. Die eine Natur bluͤht in tauſend Na¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/130
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/130>, abgerufen am 06.05.2024.