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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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turen aus, die immer reicher, wunderbarer, schöner
zarter sich gestalten. Diese Wiedergeburt ist das
Werk des Genius. Jeder große Genius ist eine selt¬
same Blume, nur in einem Exemplar vorhanden,
ganz eigenthümlich an Gestalt, Duft und Farbe.
Die innere Trieb- und Lebenskraft einer solchen Gei¬
stesblume ist ein Geheimniß, von selbst erzeugt, von
niemand zu enträthseln. Wer hat noch den Blumen¬
geist oder den Duft der Blüthen erklärt, der in die¬
ser so, in jener anders ist? Wer hat den Reiz er¬
klärt, der uns in Raphaels Bildern so ganz eigen¬
thümlich anspricht, und wer den geistigen Hauch und
Duft, den innern Seelenreiz in Schillers Charakte¬
ren? Hier kann keine Definition des Verstandes et¬
was ausrichten; nur durch Vergleichung können wir
das Gefühl näher bestimmen.

Raphaels Name hat sich mir unwillkürlich auf¬
gedrängt, und es ist unverkennbar, daß über Schil¬
lers Dichtungen der Geist einer sittlichen Schön¬
heit
schwebt, wie über den Bildern Raphaels der
Geist sinnlicher Schönheit. Das Sittliche tritt im
Werden und Leben der Geschichte hervor, und Hand¬
lung, Kampf ist seine Bedingung; das Sinnliche ist
wie die Natur im Großen, in einem ruhigen Da¬
seyn befangen.

So müssen Schillers Ideale sich im Kampfe
äußern, die von Raphael in sanfter und erhabener
Ruhe. Schillers Genius mußte das Amt des kriege¬
rischen Engels Michael nicht scheuen, Raphaels Ge¬

Deutsche Literatur. II. 6

turen aus, die immer reicher, wunderbarer, ſchoͤner
zarter ſich geſtalten. Dieſe Wiedergeburt iſt das
Werk des Genius. Jeder große Genius iſt eine ſelt¬
ſame Blume, nur in einem Exemplar vorhanden,
ganz eigenthuͤmlich an Geſtalt, Duft und Farbe.
Die innere Trieb- und Lebenskraft einer ſolchen Gei¬
ſtesblume iſt ein Geheimniß, von ſelbſt erzeugt, von
niemand zu entraͤthſeln. Wer hat noch den Blumen¬
geiſt oder den Duft der Bluͤthen erklaͤrt, der in die¬
ſer ſo, in jener anders iſt? Wer hat den Reiz er¬
klaͤrt, der uns in Raphaels Bildern ſo ganz eigen¬
thuͤmlich anſpricht, und wer den geiſtigen Hauch und
Duft, den innern Seelenreiz in Schillers Charakte¬
ren? Hier kann keine Definition des Verſtandes et¬
was ausrichten; nur durch Vergleichung koͤnnen wir
das Gefuͤhl naͤher beſtimmen.

Raphaels Name hat ſich mir unwillkuͤrlich auf¬
gedraͤngt, und es iſt unverkennbar, daß uͤber Schil¬
lers Dichtungen der Geiſt einer ſittlichen Schoͤn¬
heit
ſchwebt, wie uͤber den Bildern Raphaels der
Geiſt ſinnlicher Schoͤnheit. Das Sittliche tritt im
Werden und Leben der Geſchichte hervor, und Hand¬
lung, Kampf iſt ſeine Bedingung; das Sinnliche iſt
wie die Natur im Großen, in einem ruhigen Da¬
ſeyn befangen.

So muͤſſen Schillers Ideale ſich im Kampfe
aͤußern, die von Raphael in ſanfter und erhabener
Ruhe. Schillers Genius mußte das Amt des kriege¬
riſchen Engels Michael nicht ſcheuen, Raphaels Ge¬

Deutſche Literatur. II. 6
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[121/0131] turen aus, die immer reicher, wunderbarer, ſchoͤner zarter ſich geſtalten. Dieſe Wiedergeburt iſt das Werk des Genius. Jeder große Genius iſt eine ſelt¬ ſame Blume, nur in einem Exemplar vorhanden, ganz eigenthuͤmlich an Geſtalt, Duft und Farbe. Die innere Trieb- und Lebenskraft einer ſolchen Gei¬ ſtesblume iſt ein Geheimniß, von ſelbſt erzeugt, von niemand zu entraͤthſeln. Wer hat noch den Blumen¬ geiſt oder den Duft der Bluͤthen erklaͤrt, der in die¬ ſer ſo, in jener anders iſt? Wer hat den Reiz er¬ klaͤrt, der uns in Raphaels Bildern ſo ganz eigen¬ thuͤmlich anſpricht, und wer den geiſtigen Hauch und Duft, den innern Seelenreiz in Schillers Charakte¬ ren? Hier kann keine Definition des Verſtandes et¬ was ausrichten; nur durch Vergleichung koͤnnen wir das Gefuͤhl naͤher beſtimmen. Raphaels Name hat ſich mir unwillkuͤrlich auf¬ gedraͤngt, und es iſt unverkennbar, daß uͤber Schil¬ lers Dichtungen der Geiſt einer ſittlichen Schoͤn¬ heit ſchwebt, wie uͤber den Bildern Raphaels der Geiſt ſinnlicher Schoͤnheit. Das Sittliche tritt im Werden und Leben der Geſchichte hervor, und Hand¬ lung, Kampf iſt ſeine Bedingung; das Sinnliche iſt wie die Natur im Großen, in einem ruhigen Da¬ ſeyn befangen. So muͤſſen Schillers Ideale ſich im Kampfe aͤußern, die von Raphael in ſanfter und erhabener Ruhe. Schillers Genius mußte das Amt des kriege¬ riſchen Engels Michael nicht ſcheuen, Raphaels Ge¬ Deutſche Literatur. II. 6

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/131>, abgerufen am 24.11.2024.