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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Natürlichkeit nicht darunter leide. Es ist eben so
fehlerhaft, wenn eine unnatürliche und unwahre, da¬
her auch unpoetische Darstellung sich durch die Mo¬
ralität des Gegenstandes zu rechtfertigen suchen muß,
als wenn die Immoralität des Gegenstandes sich hin¬
ter der Natürlichkeit und Anmuth der Darstellung
versteckt. Die meisten Dichter gleichen indeß wirklich
den schlechten Heiligenmalern, die auch dem wider¬
lichsten Zerrbilde noch eine Verehrung verschaffen,
wenn es nur eine Heilige bedeuten soll; nur wenige
gleichen einem Raphael, dessen Heilige wirklich Hei¬
lige sind, dessen Kunst die Heiligkeit des Gegenstan¬
des erreicht. Unter diesen wenigen aber steht Schil¬
ler oben an. Selbst in seinen ersten Jugendproduk¬
ten trägt die innere Naturwahrheit schon über die so
oft darin getadelte Unnatur den Sieg davon, die
eben deßhalb in seinen spätern Dichtungen nicht mehr
vorkommt. Wir besitzen große Dichter, die andere
Schönheiten, als sittliche, dargestellt haben, die im
Talent der Darstellung unserm Schiller vielleicht
überlegen waren, aber keiner hat das Interesse der
Tugend und der Poesie dergestalt zu vereinigen ge¬
wußt, wie Schiller. Wir besitzen keine Darstellung
der Tugend, die poetischer, keinen Dichter, der tu¬
gendhafter wäre.

In Schillers Idealen tritt uns kein todtes me¬
chanisches Gesetz, keine Theorie, kein trocknes Mo¬
ralsystem, sondern eine lebendige organische Natur,
ein reges Leben handelnder Menschen entgegen. Diese

Natuͤrlichkeit nicht darunter leide. Es iſt eben ſo
fehlerhaft, wenn eine unnatuͤrliche und unwahre, da¬
her auch unpoetiſche Darſtellung ſich durch die Mo¬
ralitaͤt des Gegenſtandes zu rechtfertigen ſuchen muß,
als wenn die Immoralitaͤt des Gegenſtandes ſich hin¬
ter der Natuͤrlichkeit und Anmuth der Darſtellung
verſteckt. Die meiſten Dichter gleichen indeß wirklich
den ſchlechten Heiligenmalern, die auch dem wider¬
lichſten Zerrbilde noch eine Verehrung verſchaffen,
wenn es nur eine Heilige bedeuten ſoll; nur wenige
gleichen einem Raphael, deſſen Heilige wirklich Hei¬
lige ſind, deſſen Kunſt die Heiligkeit des Gegenſtan¬
des erreicht. Unter dieſen wenigen aber ſteht Schil¬
ler oben an. Selbſt in ſeinen erſten Jugendproduk¬
ten traͤgt die innere Naturwahrheit ſchon uͤber die ſo
oft darin getadelte Unnatur den Sieg davon, die
eben deßhalb in ſeinen ſpaͤtern Dichtungen nicht mehr
vorkommt. Wir beſitzen große Dichter, die andere
Schoͤnheiten, als ſittliche, dargeſtellt haben, die im
Talent der Darſtellung unſerm Schiller vielleicht
uͤberlegen waren, aber keiner hat das Intereſſe der
Tugend und der Poeſie dergeſtalt zu vereinigen ge¬
wußt, wie Schiller. Wir beſitzen keine Darſtellung
der Tugend, die poetiſcher, keinen Dichter, der tu¬
gendhafter waͤre.

In Schillers Idealen tritt uns kein todtes me¬
chaniſches Geſetz, keine Theorie, kein trocknes Mo¬
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[119/0129] Natuͤrlichkeit nicht darunter leide. Es iſt eben ſo fehlerhaft, wenn eine unnatuͤrliche und unwahre, da¬ her auch unpoetiſche Darſtellung ſich durch die Mo¬ ralitaͤt des Gegenſtandes zu rechtfertigen ſuchen muß, als wenn die Immoralitaͤt des Gegenſtandes ſich hin¬ ter der Natuͤrlichkeit und Anmuth der Darſtellung verſteckt. Die meiſten Dichter gleichen indeß wirklich den ſchlechten Heiligenmalern, die auch dem wider¬ lichſten Zerrbilde noch eine Verehrung verſchaffen, wenn es nur eine Heilige bedeuten ſoll; nur wenige gleichen einem Raphael, deſſen Heilige wirklich Hei¬ lige ſind, deſſen Kunſt die Heiligkeit des Gegenſtan¬ des erreicht. Unter dieſen wenigen aber ſteht Schil¬ ler oben an. Selbſt in ſeinen erſten Jugendproduk¬ ten traͤgt die innere Naturwahrheit ſchon uͤber die ſo oft darin getadelte Unnatur den Sieg davon, die eben deßhalb in ſeinen ſpaͤtern Dichtungen nicht mehr vorkommt. Wir beſitzen große Dichter, die andere Schoͤnheiten, als ſittliche, dargeſtellt haben, die im Talent der Darſtellung unſerm Schiller vielleicht uͤberlegen waren, aber keiner hat das Intereſſe der Tugend und der Poeſie dergeſtalt zu vereinigen ge¬ wußt, wie Schiller. Wir beſitzen keine Darſtellung der Tugend, die poetiſcher, keinen Dichter, der tu¬ gendhafter waͤre. In Schillers Idealen tritt uns kein todtes me¬ chaniſches Geſetz, keine Theorie, kein trocknes Mo¬ ralſyſtem, ſondern eine lebendige organiſche Natur, ein reges Leben handelnder Menſchen entgegen. Dieſe

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/129>, abgerufen am 24.11.2024.