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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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Verstandesdefinition und zum Gefühl des Herzens,
nie zu einem allein, sondern zu einem in allem, und
allem in einem. Jede Religion strebt nach diesem
mystischen Glauben, und geht entweder in der Ein¬
seitigkeit unter, oder gelangt von der einen Offenba¬
rung durch Vermittlung mit den andern zur höchsten.
An diese Stufenleiter sind alle historischen Religio¬
nen geknüpft.

In der höchsten Blüthe des Mittelalters war
das Christenthum eine Zeitlang mystisch. Die Ge¬
schichte scheint damals bis zu einem Wendepunkt ge¬
diehen zu seyn, und den ersten großen Akt ihres
Schauspiels würdig beschlossen zu haben. Bis dahin
drängten alle Kräfte zur Einheit; von da beginnt
wieder die Entzweiung. Ein neues, höheres, vielge¬
staltigeres Leben blüht aus den Ruinen jener großen
Vorzeit, und zum zweitenmal in weiterem Kreise
schwingt die Geschichte sich um. In der Erinnerung
der Vergangenheit liegt aber die Hoffnung der Zu¬
kunft aufgeschlossen, und wir lesen ihr Verhängniß in
den prophetischen Büchern der Geschichte. Selbst die
Natur belehrt uns, daß die zweite Schöpfung das
Gesetz der erstern nur in höhern Entfaltungen des
Lebens wiederholt. So werden wir auch in diesem
zweiten Welttage den geheimnißvollen Zug aller ge¬
trennten Kräfte nach einer höhern mystischen Eini¬
gung nicht verkennen. In ihm liegt das Räthsel der
Trennung selbst aufgeschlossen. Keine andere Bedeu¬
tung hat diese Trennung als in der Idee der Ver¬

Verſtandesdefinition und zum Gefuͤhl des Herzens,
nie zu einem allein, ſondern zu einem in allem, und
allem in einem. Jede Religion ſtrebt nach dieſem
myſtiſchen Glauben, und geht entweder in der Ein¬
ſeitigkeit unter, oder gelangt von der einen Offenba¬
rung durch Vermittlung mit den andern zur hoͤchſten.
An dieſe Stufenleiter ſind alle hiſtoriſchen Religio¬
nen geknuͤpft.

In der hoͤchſten Bluͤthe des Mittelalters war
das Chriſtenthum eine Zeitlang myſtiſch. Die Ge¬
ſchichte ſcheint damals bis zu einem Wendepunkt ge¬
diehen zu ſeyn, und den erſten großen Akt ihres
Schauſpiels wuͤrdig beſchloſſen zu haben. Bis dahin
draͤngten alle Kraͤfte zur Einheit; von da beginnt
wieder die Entzweiung. Ein neues, hoͤheres, vielge¬
ſtaltigeres Leben bluͤht aus den Ruinen jener großen
Vorzeit, und zum zweitenmal in weiterem Kreiſe
ſchwingt die Geſchichte ſich um. In der Erinnerung
der Vergangenheit liegt aber die Hoffnung der Zu¬
kunft aufgeſchloſſen, und wir leſen ihr Verhaͤngniß in
den prophetiſchen Buͤchern der Geſchichte. Selbſt die
Natur belehrt uns, daß die zweite Schoͤpfung das
Geſetz der erſtern nur in hoͤhern Entfaltungen des
Lebens wiederholt. So werden wir auch in dieſem
zweiten Welttage den geheimnißvollen Zug aller ge¬
trennten Kraͤfte nach einer hoͤhern myſtiſchen Eini¬
gung nicht verkennen. In ihm liegt das Raͤthſel der
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[85/0095] Verſtandesdefinition und zum Gefuͤhl des Herzens, nie zu einem allein, ſondern zu einem in allem, und allem in einem. Jede Religion ſtrebt nach dieſem myſtiſchen Glauben, und geht entweder in der Ein¬ ſeitigkeit unter, oder gelangt von der einen Offenba¬ rung durch Vermittlung mit den andern zur hoͤchſten. An dieſe Stufenleiter ſind alle hiſtoriſchen Religio¬ nen geknuͤpft. In der hoͤchſten Bluͤthe des Mittelalters war das Chriſtenthum eine Zeitlang myſtiſch. Die Ge¬ ſchichte ſcheint damals bis zu einem Wendepunkt ge¬ diehen zu ſeyn, und den erſten großen Akt ihres Schauſpiels wuͤrdig beſchloſſen zu haben. Bis dahin draͤngten alle Kraͤfte zur Einheit; von da beginnt wieder die Entzweiung. Ein neues, hoͤheres, vielge¬ ſtaltigeres Leben bluͤht aus den Ruinen jener großen Vorzeit, und zum zweitenmal in weiterem Kreiſe ſchwingt die Geſchichte ſich um. In der Erinnerung der Vergangenheit liegt aber die Hoffnung der Zu¬ kunft aufgeſchloſſen, und wir leſen ihr Verhaͤngniß in den prophetiſchen Buͤchern der Geſchichte. Selbſt die Natur belehrt uns, daß die zweite Schoͤpfung das Geſetz der erſtern nur in hoͤhern Entfaltungen des Lebens wiederholt. So werden wir auch in dieſem zweiten Welttage den geheimnißvollen Zug aller ge¬ trennten Kraͤfte nach einer hoͤhern myſtiſchen Eini¬ gung nicht verkennen. In ihm liegt das Raͤthſel der Trennung ſelbſt aufgeſchloſſen. Keine andere Bedeu¬ tung hat dieſe Trennung als in der Idee der Ver¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/95>, abgerufen am 04.05.2024.