chen, Römer, Engländer oder Franzosen im Auge gehabt, selbst wissen mag. Wenn sich nun aber auch diese Naivetät der deutschen Schriften streng nach¬ weisen läßt, so darf man doch damit ja nicht die so¬ genannte deutsche Ehrlichkeit verwechseln. Allerdings herrscht noch eine große Gutmüthigkeit und Redlich¬ keit unter den Autoren, und sie ließe sich schon aus dem eisernen, wenn auch oft fruchtlosen Fleiße, und aus der Weitläuftigkeit, aus dem sichtbaren Bestre¬ ben nach deutlicher Belehrung erkennen, wenn man auch den vielen Versicherungen von Ehrlichkeit und Liebe mit Recht mißtrauen dürfte. Aber eben diese sentimentalen Schwüre zeigen nur zu deutlich, daß wir den Stand der Unschuld bereits verlassen haben. Seit man so viel von dieser deutschen Biederkeit re¬ det, ist sie äußerst verdächtig geworden, ungefähr wie die deutsche Freiheit immer zweifelhafter wird, je mehr man ihren Namen im Munde führt.
Die deutsche Sprache ist der vollkommne Aus¬ druck des deutschen Charakters. Sie ist dem Geist in allen Tiefen und in dem weitesten Umfang gefolgt. Sie entspricht vollkommen der Mannigfaltigkeit der Geister und hat jedem den eigenthümlichen Ton ge¬ währt, der ihn schärfer auszeichnet, als irgend eine andre Sprache vermöchte. Die Sprache selbst gewinnt durch diese Mannigfaltigkeit des Gebrauchs. Das bunte Wesen und die Vielgestaltigkeit ist ihr eigen und steht ihr schön. Ein Blumenfeld ist edler als ein einfaches Grasfeld und gerade die schönsten Län¬
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chen, Roͤmer, Englaͤnder oder Franzoſen im Auge gehabt, ſelbſt wiſſen mag. Wenn ſich nun aber auch dieſe Naivetaͤt der deutſchen Schriften ſtreng nach¬ weiſen laͤßt, ſo darf man doch damit ja nicht die ſo¬ genannte deutſche Ehrlichkeit verwechſeln. Allerdings herrſcht noch eine große Gutmuͤthigkeit und Redlich¬ keit unter den Autoren, und ſie ließe ſich ſchon aus dem eiſernen, wenn auch oft fruchtloſen Fleiße, und aus der Weitlaͤuftigkeit, aus dem ſichtbaren Beſtre¬ ben nach deutlicher Belehrung erkennen, wenn man auch den vielen Verſicherungen von Ehrlichkeit und Liebe mit Recht mißtrauen duͤrfte. Aber eben dieſe ſentimentalen Schwuͤre zeigen nur zu deutlich, daß wir den Stand der Unſchuld bereits verlaſſen haben. Seit man ſo viel von dieſer deutſchen Biederkeit re¬ det, iſt ſie aͤußerſt verdaͤchtig geworden, ungefaͤhr wie die deutſche Freiheit immer zweifelhafter wird, je mehr man ihren Namen im Munde fuͤhrt.
Die deutſche Sprache iſt der vollkommne Aus¬ druck des deutſchen Charakters. Sie iſt dem Geiſt in allen Tiefen und in dem weiteſten Umfang gefolgt. Sie entſpricht vollkommen der Mannigfaltigkeit der Geiſter und hat jedem den eigenthuͤmlichen Ton ge¬ waͤhrt, der ihn ſchaͤrfer auszeichnet, als irgend eine andre Sprache vermoͤchte. Die Sprache ſelbſt gewinnt durch dieſe Mannigfaltigkeit des Gebrauchs. Das bunte Weſen und die Vielgeſtaltigkeit iſt ihr eigen und ſteht ihr ſchoͤn. Ein Blumenfeld iſt edler als ein einfaches Grasfeld und gerade die ſchoͤnſten Laͤn¬
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chen, Roͤmer, Englaͤnder oder Franzoſen im Auge
gehabt, ſelbſt wiſſen mag. Wenn ſich nun aber auch
dieſe Naivetaͤt der deutſchen Schriften ſtreng nach¬
weiſen laͤßt, ſo darf man doch damit ja nicht die ſo¬
genannte deutſche Ehrlichkeit verwechſeln. Allerdings
herrſcht noch eine große Gutmuͤthigkeit und Redlich¬
keit unter den Autoren, und ſie ließe ſich ſchon aus
dem eiſernen, wenn auch oft fruchtloſen Fleiße, und
aus der Weitlaͤuftigkeit, aus dem ſichtbaren Beſtre¬
ben nach deutlicher Belehrung erkennen, wenn man
auch den vielen Verſicherungen von Ehrlichkeit und
Liebe mit Recht mißtrauen duͤrfte. Aber eben dieſe
ſentimentalen Schwuͤre zeigen nur zu deutlich, daß
wir den Stand der Unſchuld bereits verlaſſen haben.
Seit man ſo viel von dieſer deutſchen Biederkeit re¬
det, iſt ſie aͤußerſt verdaͤchtig geworden, ungefaͤhr
wie die deutſche Freiheit immer zweifelhafter wird,
je mehr man ihren Namen im Munde fuͤhrt.
Die deutſche Sprache iſt der vollkommne Aus¬
druck des deutſchen Charakters. Sie iſt dem Geiſt
in allen Tiefen und in dem weiteſten Umfang gefolgt.
Sie entſpricht vollkommen der Mannigfaltigkeit der
Geiſter und hat jedem den eigenthuͤmlichen Ton ge¬
waͤhrt, der ihn ſchaͤrfer auszeichnet, als irgend eine
andre Sprache vermoͤchte. Die Sprache ſelbſt gewinnt
durch dieſe Mannigfaltigkeit des Gebrauchs. Das
bunte Weſen und die Vielgeſtaltigkeit iſt ihr eigen
und ſteht ihr ſchoͤn. Ein Blumenfeld iſt edler als
ein einfaches Grasfeld und gerade die ſchoͤnſten Laͤn¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/37>, abgerufen am 16.07.2024.
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