Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.der haben den reichsten Wechsel von Gegenden und Es ist gewiß ein nationeller Zug, daß unsre Ge¬ Die grammatische Mannigfaltigkeit erscheint aber der haben den reichſten Wechſel von Gegenden und Es iſt gewiß ein nationeller Zug, daß unſre Ge¬ Die grammatiſche Mannigfaltigkeit erſcheint aber <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0038" n="28"/> der haben den reichſten Wechſel von Gegenden und<lb/> Temperaturen. Alle Verſuche, den deutſchen Schrift¬<lb/> ſtellern einen Normalſprachgebrauch aufzudraͤngen, ſind<lb/> ſchmaͤhlich geſcheitert, weil ſie der Natur widerſtreb¬<lb/> ten. Jeder Autor ſchreibt, wie er mag. Jeder kann<lb/> von ſich mit Goͤthe ſagen: «ich ſinge, wie der Vogel<lb/> ſingt, der auf den Zweigen lebt.»</p><lb/> <p>Es iſt gewiß ein nationeller Zug, daß unſre Ge¬<lb/> lehrten und Dichter ſogar noch keine durchgreifende<lb/> Rechtſchreibung haben, und daß uns dies ſo ſelten<lb/> auffaͤllt. Wie viele Woͤrter werden nicht bald ſo,<lb/> bald anders geſchrieben, wie viele Willkuͤr herrſcht<lb/> in den zuſammengeſetzten Woͤrtern! und wer tadelt<lb/> es, als hin und wieder die Grammatiker, von denen<lb/> ſich die Autoren ſo wenig belehren laſſen, als die<lb/> Kuͤnſtler von den Äſthetikern.</p><lb/> <p>Die grammatiſche Mannigfaltigkeit erſcheint aber<lb/> nur unbedeutend gegen die rhetoriſche und poetiſche,<lb/> gegen den unendlichen Reichthum in Styl und Ma¬<lb/> nier, worin uns kein Volk auf Erden gleich kommt.<lb/> Es mag dahingeſtellt ſeyn, ob keine andre Sprache<lb/> ſo viel Phyſiognomik zulaͤßt, gewiß aber iſt, daß in<lb/> keiner ſo viel Phyſiognomik wirklich ausgedruͤckt wird.<lb/> Dieſe ungebundene Weiſe der Äußerung iſt uns mit<lb/> ſo manchem andern Zug unſrer Natur aus den alten<lb/> Waͤldern angeſtammt, und auf ihr beruht die ganze<lb/> freie Herrlichkeit unſrer Poeſie. Je beſſer der Con¬<lb/> verſationston, deſto elender die Dichter, wie in Frank¬<lb/> reich. Je ſchlechter der Canzleiſtyl, deſto origineller<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [28/0038]
der haben den reichſten Wechſel von Gegenden und
Temperaturen. Alle Verſuche, den deutſchen Schrift¬
ſtellern einen Normalſprachgebrauch aufzudraͤngen, ſind
ſchmaͤhlich geſcheitert, weil ſie der Natur widerſtreb¬
ten. Jeder Autor ſchreibt, wie er mag. Jeder kann
von ſich mit Goͤthe ſagen: «ich ſinge, wie der Vogel
ſingt, der auf den Zweigen lebt.»
Es iſt gewiß ein nationeller Zug, daß unſre Ge¬
lehrten und Dichter ſogar noch keine durchgreifende
Rechtſchreibung haben, und daß uns dies ſo ſelten
auffaͤllt. Wie viele Woͤrter werden nicht bald ſo,
bald anders geſchrieben, wie viele Willkuͤr herrſcht
in den zuſammengeſetzten Woͤrtern! und wer tadelt
es, als hin und wieder die Grammatiker, von denen
ſich die Autoren ſo wenig belehren laſſen, als die
Kuͤnſtler von den Äſthetikern.
Die grammatiſche Mannigfaltigkeit erſcheint aber
nur unbedeutend gegen die rhetoriſche und poetiſche,
gegen den unendlichen Reichthum in Styl und Ma¬
nier, worin uns kein Volk auf Erden gleich kommt.
Es mag dahingeſtellt ſeyn, ob keine andre Sprache
ſo viel Phyſiognomik zulaͤßt, gewiß aber iſt, daß in
keiner ſo viel Phyſiognomik wirklich ausgedruͤckt wird.
Dieſe ungebundene Weiſe der Äußerung iſt uns mit
ſo manchem andern Zug unſrer Natur aus den alten
Waͤldern angeſtammt, und auf ihr beruht die ganze
freie Herrlichkeit unſrer Poeſie. Je beſſer der Con¬
verſationston, deſto elender die Dichter, wie in Frank¬
reich. Je ſchlechter der Canzleiſtyl, deſto origineller
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |