sind gerade dadurch die Ansichten um so mehr ver¬ vielfältigt worden. In den engen Schranken des praktischen Lebens hätten sich die Geister in wenige Parteien und für einfache Zwecke vereinigen müssen. In der unendlichen Welt der Phantasie und Specu¬ lation aber fand jeder eigenthümliche Geist den freie¬ sten Spielraum. Der Deutsche sucht instinktartig dies freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum heraus und erfassen das praktische Leben, so geschieht es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantasie und der Theorien zu ziehn; während umgekehrt Fran¬ zosen von der Speculation und Einbildungskraft nur die Hebel für das öffentliche Leben borgen. Der Franzose braucht eine naturphilosophische Idee, um sie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden; der Deutsche braucht die physikalischen Erfahrungen am liebsten, um wundervolle Hypothesen darauf zu bauen. Der Franzose erfindet Tragödien, um auf den politischen Sinn der Nation zu wirken; dem Deutschen blieben von seinen Thaten und Erfahrun¬ gen eben nur Tragödien. Die Franzosen haben eine arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir könnten weit besser sprechen, doch wir schreiben nur. Jene reden, weil sie handeln; wir schreiben, weil wir nur denken.
Das originelle, physiognomische, aller Nor¬ malität widerstrebende Wesen in der deutschen Lite¬ ratur ist noch immer wie in der Zeit der Chroniken wahre Naivetät, mehr, als mancher Autor, der Grie¬
ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬ vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen. In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬ lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬ ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬ zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden; der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬ gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir nur denken.
Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬ malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬ ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0036"n="26"/>ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬<lb/>
vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des<lb/>
praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige<lb/>
Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen.<lb/>
In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬<lb/>
lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬<lb/>ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies<lb/>
freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum<lb/>
heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht<lb/>
es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie<lb/>
und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬<lb/>
zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur<lb/>
die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der<lb/>
Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um<lb/>ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden;<lb/>
der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen<lb/>
am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu<lb/>
bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf<lb/>
den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem<lb/>
Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬<lb/>
gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine<lb/>
arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten<lb/>
weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene<lb/>
reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir<lb/>
nur denken.</p><lb/><p>Das originelle, <hirendition="#g">phyſiognomiſche</hi>, aller Nor¬<lb/>
malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬<lb/>
ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken<lb/>
wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[26/0036]
ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬
vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des
praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige
Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen.
In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬
lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬
ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies
freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum
heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht
es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie
und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬
zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur
die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der
Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um
ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden;
der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen
am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu
bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf
den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem
Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬
gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine
arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten
weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene
reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir
nur denken.
Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬
malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬
ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken
wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/36>, abgerufen am 23.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.