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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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sind gerade dadurch die Ansichten um so mehr ver¬
vielfältigt worden. In den engen Schranken des
praktischen Lebens hätten sich die Geister in wenige
Parteien und für einfache Zwecke vereinigen müssen.
In der unendlichen Welt der Phantasie und Specu¬
lation aber fand jeder eigenthümliche Geist den freie¬
sten Spielraum. Der Deutsche sucht instinktartig dies
freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum
heraus und erfassen das praktische Leben, so geschieht
es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantasie
und der Theorien zu ziehn; während umgekehrt Fran¬
zosen von der Speculation und Einbildungskraft nur
die Hebel für das öffentliche Leben borgen. Der
Franzose braucht eine naturphilosophische Idee, um
sie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden;
der Deutsche braucht die physikalischen Erfahrungen
am liebsten, um wundervolle Hypothesen darauf zu
bauen. Der Franzose erfindet Tragödien, um auf
den politischen Sinn der Nation zu wirken; dem
Deutschen blieben von seinen Thaten und Erfahrun¬
gen eben nur Tragödien. Die Franzosen haben eine
arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir könnten
weit besser sprechen, doch wir schreiben nur. Jene
reden, weil sie handeln; wir schreiben, weil wir
nur denken.

Das originelle, physiognomische, aller Nor¬
malität widerstrebende Wesen in der deutschen Lite¬
ratur ist noch immer wie in der Zeit der Chroniken
wahre Naivetät, mehr, als mancher Autor, der Grie¬

ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬
vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des
praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige
Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen.
In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬
lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬
ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies
freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum
heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht
es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie
und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬
zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur
die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der
Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um
ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden;
der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen
am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu
bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf
den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem
Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬
gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine
arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten
weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene
reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir
nur denken.

Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬
malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬
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[26/0036] ſind gerade dadurch die Anſichten um ſo mehr ver¬ vielfaͤltigt worden. In den engen Schranken des praktiſchen Lebens haͤtten ſich die Geiſter in wenige Parteien und fuͤr einfache Zwecke vereinigen muͤſſen. In der unendlichen Welt der Phantaſie und Specu¬ lation aber fand jeder eigenthuͤmliche Geiſt den freie¬ ſten Spielraum. Der Deutſche ſucht inſtinktartig dies freie Element. Kaum gehn wir einmal aus dem Traum heraus und erfaſſen das praktiſche Leben, ſo geſchieht es nur, um es wieder in das Gebiet der Phantaſie und der Theorien zu ziehn; waͤhrend umgekehrt Fran¬ zoſen von der Speculation und Einbildungskraft nur die Hebel fuͤr das oͤffentliche Leben borgen. Der Franzoſe braucht eine naturphiloſophiſche Idee, um ſie auf die Medicin oder Fabrikation anzuwenden; der Deutſche braucht die phyſikaliſchen Erfahrungen am liebſten, um wundervolle Hypotheſen darauf zu bauen. Der Franzoſe erfindet Tragoͤdien, um auf den politiſchen Sinn der Nation zu wirken; dem Deutſchen blieben von ſeinen Thaten und Erfahrun¬ gen eben nur Tragoͤdien. Die Franzoſen haben eine arme Sprache, doch treffliche Redner. Wir koͤnnten weit beſſer ſprechen, doch wir ſchreiben nur. Jene reden, weil ſie handeln; wir ſchreiben, weil wir nur denken. Das originelle, phyſiognomiſche, aller Nor¬ malitaͤt widerſtrebende Weſen in der deutſchen Lite¬ ratur iſt noch immer wie in der Zeit der Chroniken wahre Naivetaͤt, mehr, als mancher Autor, der Grie¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/36>, abgerufen am 23.04.2024.