Gewächse. Jeder Geist ist eine Blume, eigenthüm¬ lich an Gestalt, Farbe, Duft. Nur die niedrigsten kommen in ganzen Gattungen vor, und nur die höch¬ sten vereinigen in sich die Bildungen vieler andern; in einigen wird ein großer Theil der Nation gleich¬ sam personificirt, und in seltnen Genien scheint die Menschheit selbst ihr großes Auge aufzuschlagen, Ge¬ nien, die auf der Höhe des Geschlechts stehn und das Gesetz offenbaren, das in den Massen schlummert.
Der Genius wird immer nur geboren, und die reichen Originalitäten in der deutschen Geisterwelt sind unmittelbare Wirkungen der Natur. Mittelbar mag die große Verschiedenheit der deutschen Stämme, Stände, Bildungsstufen, durch die Erziehung und das Leben auf die Schriftsteller wirken, aber diese Verschiedenheit ist selbst nur eine Folge der Volks¬ natur. Diese hat unter allen Verhältnissen die Nor¬ malität unmöglich gemacht. Unter allen Völkern bot das deutsche von jeher die reichste Mannigfaltigkeit, Gliederung und Abstufung dar, wie äußerlich, so geistig. Diese Mannigfaltigkeit ist durch die ewig junge Naturkraft von unten her aus dem Volk be¬ ständig genährt worden und hat sich nie einer von oben her gebotenen Regelmäßigkeit gefügt. Mit ihr ist zugleich alles Herrliche, was den deutschen Geist aus¬ zeichnet, von unten frei und wild hervorgewachsen.
Nur eins ist der Masse unsrer Schriftsteller ge¬ meinsam, die wenige Rücksicht auf das praktische Le¬ ben, das Überwiegen der innern Beschaulichkeit. Doch
Deutsche Literatur. I. 2
Gewaͤchſe. Jeder Geiſt iſt eine Blume, eigenthuͤm¬ lich an Geſtalt, Farbe, Duft. Nur die niedrigſten kommen in ganzen Gattungen vor, und nur die hoͤch¬ ſten vereinigen in ſich die Bildungen vieler andern; in einigen wird ein großer Theil der Nation gleich¬ ſam perſonificirt, und in ſeltnen Genien ſcheint die Menſchheit ſelbſt ihr großes Auge aufzuſchlagen, Ge¬ nien, die auf der Hoͤhe des Geſchlechts ſtehn und das Geſetz offenbaren, das in den Maſſen ſchlummert.
Der Genius wird immer nur geboren, und die reichen Originalitaͤten in der deutſchen Geiſterwelt ſind unmittelbare Wirkungen der Natur. Mittelbar mag die große Verſchiedenheit der deutſchen Staͤmme, Staͤnde, Bildungsſtufen, durch die Erziehung und das Leben auf die Schriftſteller wirken, aber dieſe Verſchiedenheit iſt ſelbſt nur eine Folge der Volks¬ natur. Dieſe hat unter allen Verhaͤltniſſen die Nor¬ malitaͤt unmoͤglich gemacht. Unter allen Voͤlkern bot das deutſche von jeher die reichſte Mannigfaltigkeit, Gliederung und Abſtufung dar, wie aͤußerlich, ſo geiſtig. Dieſe Mannigfaltigkeit iſt durch die ewig junge Naturkraft von unten her aus dem Volk be¬ ſtaͤndig genaͤhrt worden und hat ſich nie einer von oben her gebotenen Regelmaͤßigkeit gefuͤgt. Mit ihr iſt zugleich alles Herrliche, was den deutſchen Geiſt aus¬ zeichnet, von unten frei und wild hervorgewachſen.
Nur eins iſt der Maſſe unſrer Schriftſteller ge¬ meinſam, die wenige Ruͤckſicht auf das praktiſche Le¬ ben, das Überwiegen der innern Beſchaulichkeit. Doch
Deutſche Literatur. I. 2
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Gewaͤchſe. Jeder Geiſt iſt eine Blume, eigenthuͤm¬
lich an Geſtalt, Farbe, Duft. Nur die niedrigſten
kommen in ganzen Gattungen vor, und nur die hoͤch¬
ſten vereinigen in ſich die Bildungen vieler andern;
in einigen wird ein großer Theil der Nation gleich¬
ſam perſonificirt, und in ſeltnen Genien ſcheint die
Menſchheit ſelbſt ihr großes Auge aufzuſchlagen, Ge¬
nien, die auf der Hoͤhe des Geſchlechts ſtehn und
das Geſetz offenbaren, das in den Maſſen ſchlummert.
Der Genius wird immer nur geboren, und die
reichen Originalitaͤten in der deutſchen Geiſterwelt
ſind unmittelbare Wirkungen der Natur. Mittelbar
mag die große Verſchiedenheit der deutſchen Staͤmme,
Staͤnde, Bildungsſtufen, durch die Erziehung und
das Leben auf die Schriftſteller wirken, aber dieſe
Verſchiedenheit iſt ſelbſt nur eine Folge der Volks¬
natur. Dieſe hat unter allen Verhaͤltniſſen die Nor¬
malitaͤt unmoͤglich gemacht. Unter allen Voͤlkern bot
das deutſche von jeher die reichſte Mannigfaltigkeit,
Gliederung und Abſtufung dar, wie aͤußerlich, ſo
geiſtig. Dieſe Mannigfaltigkeit iſt durch die ewig
junge Naturkraft von unten her aus dem Volk be¬
ſtaͤndig genaͤhrt worden und hat ſich nie einer von
oben her gebotenen Regelmaͤßigkeit gefuͤgt. Mit ihr iſt
zugleich alles Herrliche, was den deutſchen Geiſt aus¬
zeichnet, von unten frei und wild hervorgewachſen.
Nur eins iſt der Maſſe unſrer Schriftſteller ge¬
meinſam, die wenige Ruͤckſicht auf das praktiſche Le¬
ben, das Überwiegen der innern Beſchaulichkeit. Doch
Deutſche Literatur. I. 2
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/35>, abgerufen am 16.07.2024.
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