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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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Die deutsche Sinnigkeit war immer mit einer
großen Mannigfaltigkeit eigenthümlicher Geistes¬
blüthen gepaart. Der innere Reichthum schien sich
nur in dem Maß entfalten zu können, als er an
keine Norm gebunden war. Mehr als in irgend ei¬
ner andern Nation hat die Natur in der unsern die
unerschöpfliche Fülle eigenthümlicher Geister aufge¬
schlossen. In keiner Nation gibt es so verschiedene
Systeme, Gesinnungen, Neigungen und Talente, so
verschiedene Manieren und Style, zu denken und zu
dichten, zu reden und zu schreiben. Man sieht, es
mangelt diesen Geistern an aller Norm und Dressur,
sie sind wild aufgewachsen hier und dort, verschieden
von Natur und Bildung und ihr Zusammenfluß in
der Literatur gibt eine baroke Mischung. Sie reden
in einer Sprache, wie sie unter einem Himmel leben,
aber jeder bringt einen eigenthümlichen Accent mit.
Die Natur waltet vor, wie streng auch die Disci¬
plin einzelner Schulen die sogenannte Barbarei aus¬
rotten möchte. Die Natur wuchert über die Garten¬
messer hinaus. Der Deutsche besitzt wenig gesellige
Geschmeidigkeit, doch um so stärker ist seine Indivi¬
dualität und sie will frei sich äußern bis zum Eigen¬
sinn und bis zur Karrikatur. Das Genie bricht durch
alle Dämme und auch bei dem Gemeinen schlägt der
Mutterwitz vor. Wenn man die Literatur andrer
Völker überschaut, so bemerkt man mehr oder weni¬
ger Normalität, oder französische Gartenkunst, nur
die deutsche ist ein Wald, eine Wiese voll wilder

Die deutſche Sinnigkeit war immer mit einer
großen Mannigfaltigkeit eigenthuͤmlicher Geiſtes¬
bluͤthen gepaart. Der innere Reichthum ſchien ſich
nur in dem Maß entfalten zu koͤnnen, als er an
keine Norm gebunden war. Mehr als in irgend ei¬
ner andern Nation hat die Natur in der unſern die
unerſchoͤpfliche Fuͤlle eigenthuͤmlicher Geiſter aufge¬
ſchloſſen. In keiner Nation gibt es ſo verſchiedene
Syſteme, Geſinnungen, Neigungen und Talente, ſo
verſchiedene Manieren und Style, zu denken und zu
dichten, zu reden und zu ſchreiben. Man ſieht, es
mangelt dieſen Geiſtern an aller Norm und Dreſſur,
ſie ſind wild aufgewachſen hier und dort, verſchieden
von Natur und Bildung und ihr Zuſammenfluß in
der Literatur gibt eine baroke Miſchung. Sie reden
in einer Sprache, wie ſie unter einem Himmel leben,
aber jeder bringt einen eigenthuͤmlichen Accent mit.
Die Natur waltet vor, wie ſtreng auch die Disci¬
plin einzelner Schulen die ſogenannte Barbarei aus¬
rotten moͤchte. Die Natur wuchert uͤber die Garten¬
meſſer hinaus. Der Deutſche beſitzt wenig geſellige
Geſchmeidigkeit, doch um ſo ſtaͤrker iſt ſeine Indivi¬
dualitaͤt und ſie will frei ſich aͤußern bis zum Eigen¬
ſinn und bis zur Karrikatur. Das Genie bricht durch
alle Daͤmme und auch bei dem Gemeinen ſchlaͤgt der
Mutterwitz vor. Wenn man die Literatur andrer
Voͤlker uͤberſchaut, ſo bemerkt man mehr oder weni¬
ger Normalitaͤt, oder franzoͤſiſche Gartenkunſt, nur
die deutſche iſt ein Wald, eine Wieſe voll wilder

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[24/0034] Die deutſche Sinnigkeit war immer mit einer großen Mannigfaltigkeit eigenthuͤmlicher Geiſtes¬ bluͤthen gepaart. Der innere Reichthum ſchien ſich nur in dem Maß entfalten zu koͤnnen, als er an keine Norm gebunden war. Mehr als in irgend ei¬ ner andern Nation hat die Natur in der unſern die unerſchoͤpfliche Fuͤlle eigenthuͤmlicher Geiſter aufge¬ ſchloſſen. In keiner Nation gibt es ſo verſchiedene Syſteme, Geſinnungen, Neigungen und Talente, ſo verſchiedene Manieren und Style, zu denken und zu dichten, zu reden und zu ſchreiben. Man ſieht, es mangelt dieſen Geiſtern an aller Norm und Dreſſur, ſie ſind wild aufgewachſen hier und dort, verſchieden von Natur und Bildung und ihr Zuſammenfluß in der Literatur gibt eine baroke Miſchung. Sie reden in einer Sprache, wie ſie unter einem Himmel leben, aber jeder bringt einen eigenthuͤmlichen Accent mit. Die Natur waltet vor, wie ſtreng auch die Disci¬ plin einzelner Schulen die ſogenannte Barbarei aus¬ rotten moͤchte. Die Natur wuchert uͤber die Garten¬ meſſer hinaus. Der Deutſche beſitzt wenig geſellige Geſchmeidigkeit, doch um ſo ſtaͤrker iſt ſeine Indivi¬ dualitaͤt und ſie will frei ſich aͤußern bis zum Eigen¬ ſinn und bis zur Karrikatur. Das Genie bricht durch alle Daͤmme und auch bei dem Gemeinen ſchlaͤgt der Mutterwitz vor. Wenn man die Literatur andrer Voͤlker uͤberſchaut, ſo bemerkt man mehr oder weni¬ ger Normalitaͤt, oder franzoͤſiſche Gartenkunſt, nur die deutſche iſt ein Wald, eine Wieſe voll wilder

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/34>, abgerufen am 19.04.2024.