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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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Anfangs befreite sich die Philosophie aus den
Fesseln der Dogmatik durch den Grundsatz der Ari¬
stotetiker, daß es eine innere Consequenz, eine ma¬
thematische Nothwendigkeit der Wahrheit, neben der
durch die Kirche offenbarten Wahrheit gebe. Die
Philosophie erweiterte jedoch nur die Gränzen der
Theologie und ihre Fragen blieben theologische. Mit
den großen geographischen, astronomischen und physi¬
kalischen Entdeckungen des fünfzehnten Jahrhunderts
kam eine neue Richtung in die Philosophie. Man
bemühte sich, das Princip des geistigen Lebens, das
man früher in der göttlichen Offenbarung gesucht,
mit dem Princip der Natur zu vermitteln; man iden¬
tificirte auf eine mystische Weise die Kräfte der Na¬
tur, die man in der Astronomie und Chymie entdeckt,
mit den Kräften der menschlichen Seele; man suchte
einen Stein der Weisen, darin die Wurzel aller ma¬
teriellen und geistigen Kräfte verborgen läge. Theo¬
phrastus Paracelsus bearbeitete die Physik, später
der tiefsinnige Jakob Böhme die Psychologie nach
naturphilosophischen Ideen. Sie sind unbillig ver¬
achtet worden. Insonderheit den letztern hat man
mehr von der theologischen als naturphilosophischen
Seite, und somit ganz schief ins Auge gefaßt. Wenn
ihnen die ungeheure physikalische Erfahrung des acht¬
zehnten Jahrhunderts nicht zu Gebote stand, so hat¬
ten sie doch offenbar philosophischen Tiefsinn und der
letztere zugleich das Schema eines durchgreifenden
Systems. Diese Weise zu philosophiren, die erst die

Anfangs befreite ſich die Philoſophie aus den
Feſſeln der Dogmatik durch den Grundſatz der Ari¬
ſtotetiker, daß es eine innere Conſequenz, eine ma¬
thematiſche Nothwendigkeit der Wahrheit, neben der
durch die Kirche offenbarten Wahrheit gebe. Die
Philoſophie erweiterte jedoch nur die Graͤnzen der
Theologie und ihre Fragen blieben theologiſche. Mit
den großen geographiſchen, aſtronomiſchen und phyſi¬
kaliſchen Entdeckungen des fuͤnfzehnten Jahrhunderts
kam eine neue Richtung in die Philoſophie. Man
bemuͤhte ſich, das Princip des geiſtigen Lebens, das
man fruͤher in der goͤttlichen Offenbarung geſucht,
mit dem Princip der Natur zu vermitteln; man iden¬
tificirte auf eine myſtiſche Weiſe die Kraͤfte der Na¬
tur, die man in der Aſtronomie und Chymie entdeckt,
mit den Kraͤften der menſchlichen Seele; man ſuchte
einen Stein der Weiſen, darin die Wurzel aller ma¬
teriellen und geiſtigen Kraͤfte verborgen laͤge. Theo¬
phraſtus Paracelſus bearbeitete die Phyſik, ſpaͤter
der tiefſinnige Jakob Boͤhme die Pſychologie nach
naturphiloſophiſchen Ideen. Sie ſind unbillig ver¬
achtet worden. Inſonderheit den letztern hat man
mehr von der theologiſchen als naturphiloſophiſchen
Seite, und ſomit ganz ſchief ins Auge gefaßt. Wenn
ihnen die ungeheure phyſikaliſche Erfahrung des acht¬
zehnten Jahrhunderts nicht zu Gebote ſtand, ſo hat¬
ten ſie doch offenbar philoſophiſchen Tiefſinn und der
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[159/0169] Anfangs befreite ſich die Philoſophie aus den Feſſeln der Dogmatik durch den Grundſatz der Ari¬ ſtotetiker, daß es eine innere Conſequenz, eine ma¬ thematiſche Nothwendigkeit der Wahrheit, neben der durch die Kirche offenbarten Wahrheit gebe. Die Philoſophie erweiterte jedoch nur die Graͤnzen der Theologie und ihre Fragen blieben theologiſche. Mit den großen geographiſchen, aſtronomiſchen und phyſi¬ kaliſchen Entdeckungen des fuͤnfzehnten Jahrhunderts kam eine neue Richtung in die Philoſophie. Man bemuͤhte ſich, das Princip des geiſtigen Lebens, das man fruͤher in der goͤttlichen Offenbarung geſucht, mit dem Princip der Natur zu vermitteln; man iden¬ tificirte auf eine myſtiſche Weiſe die Kraͤfte der Na¬ tur, die man in der Aſtronomie und Chymie entdeckt, mit den Kraͤften der menſchlichen Seele; man ſuchte einen Stein der Weiſen, darin die Wurzel aller ma¬ teriellen und geiſtigen Kraͤfte verborgen laͤge. Theo¬ phraſtus Paracelſus bearbeitete die Phyſik, ſpaͤter der tiefſinnige Jakob Boͤhme die Pſychologie nach naturphiloſophiſchen Ideen. Sie ſind unbillig ver¬ achtet worden. Inſonderheit den letztern hat man mehr von der theologiſchen als naturphiloſophiſchen Seite, und ſomit ganz ſchief ins Auge gefaßt. Wenn ihnen die ungeheure phyſikaliſche Erfahrung des acht¬ zehnten Jahrhunderts nicht zu Gebote ſtand, ſo hat¬ ten ſie doch offenbar philoſophiſchen Tiefſinn und der letztere zugleich das Schema eines durchgreifenden Syſtems. Dieſe Weiſe zu philoſophiren, die erſt die

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/169>, abgerufen am 27.04.2024.