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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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neuere Zeit wieder aufnahm, konnte damals nicht
durchdringen. Selbst der große Spinoza eilte seiner
Zeit voran, ohne sie mit sich zu reißen. Der herr¬
schende Hang nach Astrologie, Alchymie, Chiromantie
und der Aberglauben aller Art zog die Naturphilo¬
sophie ins Absurde und brachte sie nicht selten in die
unwürdigsten Hände. Theophrastus Paracelsus bil¬
det den Übergang zur Empirie. Sein reiches Detail
physikalischer Erfahrung, noch gemischt mit dem Wun¬
derglauben der heidnischen Pharmacie und der sym¬
pathetischen Curen, bereitete doch ein genaues und
umfassenderes Forschen im Einzelnen vor, wobei nur
die Philosophie in den Hintergrund trat. Inzwischen
wurde, je mehr der physikalische Theil der Naturwis¬
senschaften von der Philosophie sich entfernte, der
mathematische desto enger mit ihr verbunden. Die
Mathematik sagte dem immer mehr erkältenden Ver¬
stande zu, und wenn sie einerseits den Gehalt der
Philosophie gleichsam austrocknete in einer dürren
Atomenlehre, so war sie andrerseits doch äußerst heil¬
sam für den philosophischen Formalismus. Leibnitz,
Wolf, Baumgarten haben hier das größte geleistet.
Das System, nach welchem man die Philosophie fortan
mathematisch beweisen, sie auf einen Satz zurückfüh¬
ren und so klar wie das Einmal Eins machen wollte,
verzichtete zwar auf die anthropologische Basis, und
verstopfte jede andre Quelle der Erkenntniß, außer
der durch Abstraktion der Begriff, negirte jedes
Organ, außer der Denkkraft, erwarb uns aber auch

neuere Zeit wieder aufnahm, konnte damals nicht
durchdringen. Selbſt der große Spinoza eilte ſeiner
Zeit voran, ohne ſie mit ſich zu reißen. Der herr¬
ſchende Hang nach Aſtrologie, Alchymie, Chiromantie
und der Aberglauben aller Art zog die Naturphilo¬
ſophie ins Abſurde und brachte ſie nicht ſelten in die
unwuͤrdigſten Haͤnde. Theophraſtus Paracelſus bil¬
det den Übergang zur Empirie. Sein reiches Detail
phyſikaliſcher Erfahrung, noch gemiſcht mit dem Wun¬
derglauben der heidniſchen Pharmacie und der ſym¬
pathetiſchen Curen, bereitete doch ein genaues und
umfaſſenderes Forſchen im Einzelnen vor, wobei nur
die Philoſophie in den Hintergrund trat. Inzwiſchen
wurde, je mehr der phyſikaliſche Theil der Naturwiſ¬
ſenſchaften von der Philoſophie ſich entfernte, der
mathematiſche deſto enger mit ihr verbunden. Die
Mathematik ſagte dem immer mehr erkaͤltenden Ver¬
ſtande zu, und wenn ſie einerſeits den Gehalt der
Philoſophie gleichſam austrocknete in einer duͤrren
Atomenlehre, ſo war ſie andrerſeits doch aͤußerſt heil¬
ſam fuͤr den philoſophiſchen Formalismus. Leibnitz,
Wolf, Baumgarten haben hier das groͤßte geleiſtet.
Das Syſtem, nach welchem man die Philoſophie fortan
mathematiſch beweiſen, ſie auf einen Satz zuruͤckfuͤh¬
ren und ſo klar wie das Einmal Eins machen wollte,
verzichtete zwar auf die anthropologiſche Baſis, und
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[160/0170] neuere Zeit wieder aufnahm, konnte damals nicht durchdringen. Selbſt der große Spinoza eilte ſeiner Zeit voran, ohne ſie mit ſich zu reißen. Der herr¬ ſchende Hang nach Aſtrologie, Alchymie, Chiromantie und der Aberglauben aller Art zog die Naturphilo¬ ſophie ins Abſurde und brachte ſie nicht ſelten in die unwuͤrdigſten Haͤnde. Theophraſtus Paracelſus bil¬ det den Übergang zur Empirie. Sein reiches Detail phyſikaliſcher Erfahrung, noch gemiſcht mit dem Wun¬ derglauben der heidniſchen Pharmacie und der ſym¬ pathetiſchen Curen, bereitete doch ein genaues und umfaſſenderes Forſchen im Einzelnen vor, wobei nur die Philoſophie in den Hintergrund trat. Inzwiſchen wurde, je mehr der phyſikaliſche Theil der Naturwiſ¬ ſenſchaften von der Philoſophie ſich entfernte, der mathematiſche deſto enger mit ihr verbunden. Die Mathematik ſagte dem immer mehr erkaͤltenden Ver¬ ſtande zu, und wenn ſie einerſeits den Gehalt der Philoſophie gleichſam austrocknete in einer duͤrren Atomenlehre, ſo war ſie andrerſeits doch aͤußerſt heil¬ ſam fuͤr den philoſophiſchen Formalismus. Leibnitz, Wolf, Baumgarten haben hier das groͤßte geleiſtet. Das Syſtem, nach welchem man die Philoſophie fortan mathematiſch beweiſen, ſie auf einen Satz zuruͤckfuͤh¬ ren und ſo klar wie das Einmal Eins machen wollte, verzichtete zwar auf die anthropologiſche Baſis, und verſtopfte jede andre Quelle der Erkenntniß, außer der durch Abſtraktion der Begriff, negirte jedes Organ, außer der Denkkraft, erwarb uns aber auch

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/170>, abgerufen am 27.04.2024.