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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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der äussern Sinne mit sich führet, die Wahr-
heit behaupten und aussagen können: ich habe
gehört, gesehen, gesprochen, empfangen, ge-
geben, oder nicht gehört u. s. w. Man brin-
get aber ihr Gewissen auf eine grausame Fol-
ter, wenn man sie über Dinge befragt, die
blos für den innern Sinn gehören. Glaubst
du? Bist du überführt? überredet? dünkt es
dir? Ist irgend in einem Winkel deines Gei-
stes oder deines Herzens noch einiger Zweifel
zurück; so zeige an, oder Gott wird den Miß-
brauch seines Namens rächen. -- Um des
Himmels willen, schonet der zarten, gewissen-
haften Unschuld! Und wenn sie einen Satz
aus dem ersten Buche des Euklides zu be-
haupten hätte; so müßte sie in diesem Augen-
blicke zagen, und unaussprechliche Marter
leiden.

Die Wahrnehmungen des innern Sinnes
sind an und für sich selbst selten so handgreif-
lich, daß der Geist sie mit Sicherheit feste hal-
ten, und so oft es verlangt wird, von sich ge-
ben könne. Sie entschlüpfen ihm zuweilen, in-
dem er sie zu fassen glaubt. Wovon ich itzt

ver-

der aͤuſſern Sinne mit ſich fuͤhret, die Wahr-
heit behaupten und ausſagen koͤnnen: ich habe
gehoͤrt, geſehen, geſprochen, empfangen, ge-
geben, oder nicht gehoͤrt u. ſ. w. Man brin-
get aber ihr Gewiſſen auf eine grauſame Fol-
ter, wenn man ſie uͤber Dinge befragt, die
blos fuͤr den innern Sinn gehoͤren. Glaubſt
du? Biſt du uͤberfuͤhrt? uͤberredet? duͤnkt es
dir? Iſt irgend in einem Winkel deines Gei-
ſtes oder deines Herzens noch einiger Zweifel
zuruͤck; ſo zeige an, oder Gott wird den Miß-
brauch ſeines Namens raͤchen. — Um des
Himmels willen, ſchonet der zarten, gewiſſen-
haften Unſchuld! Und wenn ſie einen Satz
aus dem erſten Buche des Euklides zu be-
haupten haͤtte; ſo muͤßte ſie in dieſem Augen-
blicke zagen, und unausſprechliche Marter
leiden.

Die Wahrnehmungen des innern Sinnes
ſind an und fuͤr ſich ſelbſt ſelten ſo handgreif-
lich, daß der Geiſt ſie mit Sicherheit feſte hal-
ten, und ſo oft es verlangt wird, von ſich ge-
ben koͤnne. Sie entſchluͤpfen ihm zuweilen, in-
dem er ſie zu faſſen glaubt. Wovon ich itzt

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[75/0081] der aͤuſſern Sinne mit ſich fuͤhret, die Wahr- heit behaupten und ausſagen koͤnnen: ich habe gehoͤrt, geſehen, geſprochen, empfangen, ge- geben, oder nicht gehoͤrt u. ſ. w. Man brin- get aber ihr Gewiſſen auf eine grauſame Fol- ter, wenn man ſie uͤber Dinge befragt, die blos fuͤr den innern Sinn gehoͤren. Glaubſt du? Biſt du uͤberfuͤhrt? uͤberredet? duͤnkt es dir? Iſt irgend in einem Winkel deines Gei- ſtes oder deines Herzens noch einiger Zweifel zuruͤck; ſo zeige an, oder Gott wird den Miß- brauch ſeines Namens raͤchen. — Um des Himmels willen, ſchonet der zarten, gewiſſen- haften Unſchuld! Und wenn ſie einen Satz aus dem erſten Buche des Euklides zu be- haupten haͤtte; ſo muͤßte ſie in dieſem Augen- blicke zagen, und unausſprechliche Marter leiden. Die Wahrnehmungen des innern Sinnes ſind an und fuͤr ſich ſelbſt ſelten ſo handgreif- lich, daß der Geiſt ſie mit Sicherheit feſte hal- ten, und ſo oft es verlangt wird, von ſich ge- ben koͤnne. Sie entſchluͤpfen ihm zuweilen, in- dem er ſie zu faſſen glaubt. Wovon ich itzt ver-

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/81>, abgerufen am 24.11.2024.