Ich habe nunmehr, zum Grundrisse des alten, ursprünglichen Judentums, wie ich mir solches vorstelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Gesetze; Gesinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die für alle Menschen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra- chen, Sitten, Lebensart und Verhältnisse im- mer dieselben bleiben, uns immer dieselbe steife Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwängen können, ohne sie zu zerstümmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei- stigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände glei- chen Schritt halten, und nach dem Bedürfnis, nach der Fähigkeit und Fassungskraft des Lehr- lings abgeändert und gemodelt werden kann. Die Veranlassung zu diesem väterlichen Unter- richte fand man in dem geschriebenen Gesetzbu- che, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhörlich zu beob- achten hatte. Es war Anfangs ausdrücklich verboten, über die Gesetze mehr zu schreiben, als Gott der Nation durch Mosen hat verzeich-
nen
Ich habe nunmehr, zum Grundriſſe des alten, urſpruͤnglichen Judentums, wie ich mir ſolches vorſtelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Geſetze; Geſinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die fuͤr alle Menſchen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra- chen, Sitten, Lebensart und Verhaͤltniſſe im- mer dieſelben bleiben, uns immer dieſelbe ſteife Formen darbieten ſollen, in welche wir unſere Begriffe nicht einzwaͤngen koͤnnen, ohne ſie zu zerſtuͤmmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei- ſtigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veraͤnderungen der Zeiten und Umſtaͤnde glei- chen Schritt halten, und nach dem Beduͤrfnis, nach der Faͤhigkeit und Faſſungskraft des Lehr- lings abgeaͤndert und gemodelt werden kann. Die Veranlaſſung zu dieſem vaͤterlichen Unter- richte fand man in dem geſchriebenen Geſetzbu- che, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhoͤrlich zu beob- achten hatte. Es war Anfangs ausdruͤcklich verboten, uͤber die Geſetze mehr zu ſchreiben, als Gott der Nation durch Moſen hat verzeich-
nen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0161"n="59"/><p>Ich habe nunmehr, zum Grundriſſe des<lb/>
alten, urſpruͤnglichen Judentums, wie ich mir<lb/>ſolches vorſtelle, die Außenlinien entworfen.<lb/>
Lehrbegriffe und Geſetze; Geſinnungen und<lb/>
Handlungen. Jene waren nicht an Worte und<lb/>
Schriftzeichen gebunden, die fuͤr alle Menſchen<lb/>
und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra-<lb/>
chen, Sitten, Lebensart und Verhaͤltniſſe im-<lb/>
mer dieſelben bleiben, uns immer dieſelbe ſteife<lb/>
Formen darbieten ſollen, in welche wir unſere<lb/>
Begriffe nicht einzwaͤngen koͤnnen, ohne ſie zu<lb/>
zerſtuͤmmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei-<lb/>ſtigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen<lb/>
Veraͤnderungen der Zeiten und Umſtaͤnde glei-<lb/>
chen Schritt halten, und nach dem Beduͤrfnis,<lb/>
nach der Faͤhigkeit und Faſſungskraft des Lehr-<lb/>
lings abgeaͤndert und gemodelt werden kann.<lb/>
Die Veranlaſſung zu dieſem vaͤterlichen Unter-<lb/>
richte fand man in dem geſchriebenen Geſetzbu-<lb/>
che, und in den Zeremonialhandlungen, die der<lb/>
Bekenner des Judentums unaufhoͤrlich zu beob-<lb/>
achten hatte. Es war Anfangs ausdruͤcklich<lb/>
verboten, uͤber die Geſetze mehr zu ſchreiben,<lb/>
als Gott der Nation durch Moſen hat verzeich-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nen</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[59/0161]
Ich habe nunmehr, zum Grundriſſe des
alten, urſpruͤnglichen Judentums, wie ich mir
ſolches vorſtelle, die Außenlinien entworfen.
Lehrbegriffe und Geſetze; Geſinnungen und
Handlungen. Jene waren nicht an Worte und
Schriftzeichen gebunden, die fuͤr alle Menſchen
und Zeiten, unter allen Revolutionen der Spra-
chen, Sitten, Lebensart und Verhaͤltniſſe im-
mer dieſelben bleiben, uns immer dieſelbe ſteife
Formen darbieten ſollen, in welche wir unſere
Begriffe nicht einzwaͤngen koͤnnen, ohne ſie zu
zerſtuͤmmeln. Sie wurden dem lebendigen, gei-
ſtigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen
Veraͤnderungen der Zeiten und Umſtaͤnde glei-
chen Schritt halten, und nach dem Beduͤrfnis,
nach der Faͤhigkeit und Faſſungskraft des Lehr-
lings abgeaͤndert und gemodelt werden kann.
Die Veranlaſſung zu dieſem vaͤterlichen Unter-
richte fand man in dem geſchriebenen Geſetzbu-
che, und in den Zeremonialhandlungen, die der
Bekenner des Judentums unaufhoͤrlich zu beob-
achten hatte. Es war Anfangs ausdruͤcklich
verboten, uͤber die Geſetze mehr zu ſchreiben,
als Gott der Nation durch Moſen hat verzeich-
nen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/161>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.