Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

sich ein Jeder überführen kann, der die Gesetze
Moses auch nur in irgend einer Uebersetzung zu
dieser Absicht in die Hand nimmt. Die Erfah-
rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die-
ses göttliche Gesetzbuch, einem großen Theil des
menschlichen Geschlechts Quelle des Erkenntnis-
ses geworden, aus welcher sie neue Begriffe
schöpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr
ihr in demselben forschet, desto mehr erstaunt ihr,
über die Tiefe der Erkenntnisse, die darinn
verborgen liegen. Die Wahrheit bietet sich
zwar in demselben, in der einfachsten Bekleidung,
gleichsam ohne Anspruch, auf den ersten An-
blick dar. Allein je näher ihr hinzudringet, je
reiner, unschuldiger, liebe- und sehnsuchtsvoller
der Blick ist, mit welchem ihr auf sie hinschauet,
desto mehr entfaltet sie euch von ihrer göttlichen
Schönheit, die sie mit leichtem Flor verhüllt,
um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent-
weihet zu werden. Allein alle diese vortrefli-
chen Lehrsätze werden dem Erkenntniß dargestellt,
der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben
aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorschrif-
ten und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes,

lau-
D 3

ſich ein Jeder uͤberfuͤhren kann, der die Geſetze
Moſes auch nur in irgend einer Ueberſetzung zu
dieſer Abſicht in die Hand nimmt. Die Erfah-
rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die-
ſes goͤttliche Geſetzbuch, einem großen Theil des
menſchlichen Geſchlechts Quelle des Erkenntniſ-
ſes geworden, aus welcher ſie neue Begriffe
ſchoͤpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr
ihr in demſelben forſchet, deſto mehr erſtaunt ihr,
uͤber die Tiefe der Erkenntniſſe, die darinn
verborgen liegen. Die Wahrheit bietet ſich
zwar in demſelben, in der einfachſten Bekleidung,
gleichſam ohne Anſpruch, auf den erſten An-
blick dar. Allein je naͤher ihr hinzudringet, je
reiner, unſchuldiger, liebe- und ſehnſuchtsvoller
der Blick iſt, mit welchem ihr auf ſie hinſchauet,
deſto mehr entfaltet ſie euch von ihrer goͤttlichen
Schoͤnheit, die ſie mit leichtem Flor verhuͤllt,
um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent-
weihet zu werden. Allein alle dieſe vortrefli-
chen Lehrſaͤtze werden dem Erkenntniß dargeſtellt,
der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben
aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorſchrif-
ten und Verordnungen des Moſaiſchen Geſetzes,

lau-
D 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0155" n="53"/>
&#x017F;ich ein Jeder u&#x0364;berfu&#x0364;hren kann, der die Ge&#x017F;etze<lb/>
Mo&#x017F;es auch nur in irgend einer Ueber&#x017F;etzung zu<lb/>
die&#x017F;er Ab&#x017F;icht in die Hand nimmt. Die Erfah-<lb/>
rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die-<lb/>
&#x017F;es go&#x0364;ttliche Ge&#x017F;etzbuch, einem großen Theil des<lb/>
men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;chlechts Quelle des Erkenntni&#x017F;-<lb/>
&#x017F;es geworden, aus welcher &#x017F;ie neue Begriffe<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pfen, oder die alten berichtigen. Je mehr<lb/>
ihr in dem&#x017F;elben for&#x017F;chet, de&#x017F;to mehr er&#x017F;taunt ihr,<lb/>
u&#x0364;ber die Tiefe der Erkenntni&#x017F;&#x017F;e, die darinn<lb/>
verborgen liegen. Die Wahrheit bietet &#x017F;ich<lb/>
zwar in dem&#x017F;elben, in der einfach&#x017F;ten Bekleidung,<lb/>
gleich&#x017F;am ohne An&#x017F;pruch, auf den er&#x017F;ten An-<lb/>
blick dar. Allein je na&#x0364;her ihr hinzudringet, je<lb/>
reiner, un&#x017F;chuldiger, liebe- und &#x017F;ehn&#x017F;uchtsvoller<lb/>
der Blick i&#x017F;t, mit welchem ihr auf &#x017F;ie hin&#x017F;chauet,<lb/>
de&#x017F;to mehr entfaltet &#x017F;ie euch von ihrer go&#x0364;ttlichen<lb/>
Scho&#x0364;nheit, die &#x017F;ie mit leichtem Flor verhu&#x0364;llt,<lb/>
um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent-<lb/>
weihet zu werden. Allein alle die&#x017F;e vortrefli-<lb/>
chen Lehr&#x017F;a&#x0364;tze werden dem Erkenntniß darge&#x017F;tellt,<lb/>
der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben<lb/>
aufgedrungen zu werden. Unter allen Vor&#x017F;chrif-<lb/>
ten und Verordnungen des Mo&#x017F;ai&#x017F;chen Ge&#x017F;etzes,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 3</fw><fw place="bottom" type="catch">lau-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0155] ſich ein Jeder uͤberfuͤhren kann, der die Geſetze Moſes auch nur in irgend einer Ueberſetzung zu dieſer Abſicht in die Hand nimmt. Die Erfah- rung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß die- ſes goͤttliche Geſetzbuch, einem großen Theil des menſchlichen Geſchlechts Quelle des Erkenntniſ- ſes geworden, aus welcher ſie neue Begriffe ſchoͤpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr ihr in demſelben forſchet, deſto mehr erſtaunt ihr, uͤber die Tiefe der Erkenntniſſe, die darinn verborgen liegen. Die Wahrheit bietet ſich zwar in demſelben, in der einfachſten Bekleidung, gleichſam ohne Anſpruch, auf den erſten An- blick dar. Allein je naͤher ihr hinzudringet, je reiner, unſchuldiger, liebe- und ſehnſuchtsvoller der Blick iſt, mit welchem ihr auf ſie hinſchauet, deſto mehr entfaltet ſie euch von ihrer goͤttlichen Schoͤnheit, die ſie mit leichtem Flor verhuͤllt, um nicht von gemeinen unheiligen Augen ent- weihet zu werden. Allein alle dieſe vortrefli- chen Lehrſaͤtze werden dem Erkenntniß dargeſtellt, der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben aufgedrungen zu werden. Unter allen Vorſchrif- ten und Verordnungen des Moſaiſchen Geſetzes, lau- D 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/155
Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/155>, abgerufen am 18.05.2024.