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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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Ich besorge, daß dieses Auffallen, und man-
chem Leser abermals neu und hart scheinen dürf-
te. Man hat auf diesem Unterschied immer we-
nig Acht gehabt; man hat übernatürliche Ge-
setzgebung für übernatürliche Religionsof-
fenbarung
genommen, und vom Judentume
so gesprochen, als sey es blos eine frühere Offen-
barung religiöser Sätze und Lehren, die zum Hei-
le des Menschen nothwendig sind. Ich werde
mich also etwas weitläuftig zu erklären haben,
und um nicht misverstanden zu werden, zu frü-
hern Begriffen hinaufsteigen müssen, um mit mei-
nem Leser aus demselben Standpunkte auszuge-
hen, und gleichen Schritt halten zu können.

Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen
Sätze, welche der Zeit nicht unterworfen sind,
und in Ewigkeit dieselben bleiben. Diese sind ent-
weder nothwendig, an und für sich selbst un-
veränderlich
, oder zufällig; das heißt, ihre
Beständigkeit gründet sich entweder auf ihr We-
sen
, sie sind deswegen so und nicht anders wahr,
weil sie so und nicht anders denkbar sind, oder
auf ihre Wirklichkeit: sie sind deswegen allge-
mein wahr, deswegen so und nicht anders, weil

sie

Ich beſorge, daß dieſes Auffallen, und man-
chem Leſer abermals neu und hart ſcheinen duͤrf-
te. Man hat auf dieſem Unterſchied immer we-
nig Acht gehabt; man hat uͤbernatuͤrliche Ge-
ſetzgebung fuͤr uͤbernatuͤrliche Religionsof-
fenbarung
genommen, und vom Judentume
ſo geſprochen, als ſey es blos eine fruͤhere Offen-
barung religioͤſer Saͤtze und Lehren, die zum Hei-
le des Menſchen nothwendig ſind. Ich werde
mich alſo etwas weitlaͤuftig zu erklaͤren haben,
und um nicht misverſtanden zu werden, zu fruͤ-
hern Begriffen hinaufſteigen muͤſſen, um mit mei-
nem Leſer aus demſelben Standpunkte auszuge-
hen, und gleichen Schritt halten zu koͤnnen.

Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen
Saͤtze, welche der Zeit nicht unterworfen ſind,
und in Ewigkeit dieſelben bleiben. Dieſe ſind ent-
weder nothwendig, an und fuͤr ſich ſelbſt un-
veraͤnderlich
, oder zufaͤllig; das heißt, ihre
Beſtaͤndigkeit gruͤndet ſich entweder auf ihr We-
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, ſie ſind deswegen ſo und nicht anders wahr,
weil ſie ſo und nicht anders denkbar ſind, oder
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[32/0134] Ich beſorge, daß dieſes Auffallen, und man- chem Leſer abermals neu und hart ſcheinen duͤrf- te. Man hat auf dieſem Unterſchied immer we- nig Acht gehabt; man hat uͤbernatuͤrliche Ge- ſetzgebung fuͤr uͤbernatuͤrliche Religionsof- fenbarung genommen, und vom Judentume ſo geſprochen, als ſey es blos eine fruͤhere Offen- barung religioͤſer Saͤtze und Lehren, die zum Hei- le des Menſchen nothwendig ſind. Ich werde mich alſo etwas weitlaͤuftig zu erklaͤren haben, und um nicht misverſtanden zu werden, zu fruͤ- hern Begriffen hinaufſteigen muͤſſen, um mit mei- nem Leſer aus demſelben Standpunkte auszuge- hen, und gleichen Schritt halten zu koͤnnen. Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen Saͤtze, welche der Zeit nicht unterworfen ſind, und in Ewigkeit dieſelben bleiben. Dieſe ſind ent- weder nothwendig, an und fuͤr ſich ſelbſt un- veraͤnderlich, oder zufaͤllig; das heißt, ihre Beſtaͤndigkeit gruͤndet ſich entweder auf ihr We- ſen, ſie ſind deswegen ſo und nicht anders wahr, weil ſie ſo und nicht anders denkbar ſind, oder auf ihre Wirklichkeit: ſie ſind deswegen allge- mein wahr, deswegen ſo und nicht anders, weil ſie

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/134>, abgerufen am 27.11.2024.