serer selbst, so oft sie in dem Fall waren, in Ab- sicht auf Gerechtsame, das wie weit? fest zu se- tzen. Nicht nur praktisch war es schwer, den großen, seiner Fessel entbundenen Haufen inner- halb geziemender Schranken zu halten; sondern auch in der Theorie selbst findet man die Schrif- ten jener Zeiten voller unbestimmten und schwan- kenden Begriffe, so oft von Festsetzung der kirch- lichen Gewalt die Rede ist. Der Despotismus der römischen Kirche war aufgehoben, aber -- welche andre Form soll an ihrer Stelle einge- führt werden? -- Noch itzt in unsern aufgeklär- tern Zeiten haben die Lehrbücher des Kir- chenrechts von dieser Unbestimmtheit nicht be- freyet werden können. Allen Anspruch auf Ver- fassung will oder kann die Geistlichkeit nicht auf- geben, und gleichwohl weis niemand recht, wor- in solche bestehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entscheiden, ohne einen obersten Rich- ter zu erkennen. Man beruft sich noch immer auf eine unabhängige Kirche, ohne zu wissen, wo sie anzutreffen sey. Man macht Anspruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer sie handhaben soll?
Tho-
ſerer ſelbſt, ſo oft ſie in dem Fall waren, in Ab- ſicht auf Gerechtſame, das wie weit? feſt zu ſe- tzen. Nicht nur praktiſch war es ſchwer, den großen, ſeiner Feſſel entbundenen Haufen inner- halb geziemender Schranken zu halten; ſondern auch in der Theorie ſelbſt findet man die Schrif- ten jener Zeiten voller unbeſtimmten und ſchwan- kenden Begriffe, ſo oft von Feſtſetzung der kirch- lichen Gewalt die Rede iſt. Der Deſpotismus der roͤmiſchen Kirche war aufgehoben, aber — welche andre Form ſoll an ihrer Stelle einge- fuͤhrt werden? — Noch itzt in unſern aufgeklaͤr- tern Zeiten haben die Lehrbuͤcher des Kir- chenrechts von dieſer Unbeſtimmtheit nicht be- freyet werden koͤnnen. Allen Anſpruch auf Ver- faſſung will oder kann die Geiſtlichkeit nicht auf- geben, und gleichwohl weis niemand recht, wor- in ſolche beſtehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entſcheiden, ohne einen oberſten Rich- ter zu erkennen. Man beruft ſich noch immer auf eine unabhaͤngige Kirche, ohne zu wiſſen, wo ſie anzutreffen ſey. Man macht Anſpruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer ſie handhaben ſoll?
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[6/0012]
ſerer ſelbſt, ſo oft ſie in dem Fall waren, in Ab-
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großen, ſeiner Feſſel entbundenen Haufen inner-
halb geziemender Schranken zu halten; ſondern
auch in der Theorie ſelbſt findet man die Schrif-
ten jener Zeiten voller unbeſtimmten und ſchwan-
kenden Begriffe, ſo oft von Feſtſetzung der kirch-
lichen Gewalt die Rede iſt. Der Deſpotismus
der roͤmiſchen Kirche war aufgehoben, aber —
welche andre Form ſoll an ihrer Stelle einge-
fuͤhrt werden? — Noch itzt in unſern aufgeklaͤr-
tern Zeiten haben die Lehrbuͤcher des Kir-
chenrechts von dieſer Unbeſtimmtheit nicht be-
freyet werden koͤnnen. Allen Anſpruch auf Ver-
faſſung will oder kann die Geiſtlichkeit nicht auf-
geben, und gleichwohl weis niemand recht, wor-
in ſolche beſtehe? Man will Streitigkeiten in
der Lehre entſcheiden, ohne einen oberſten Rich-
ter zu erkennen. Man beruft ſich noch immer
auf eine unabhaͤngige Kirche, ohne zu wiſſen,
wo ſie anzutreffen ſey. Man macht Anſpruch
auf Macht und Recht, und kann doch nicht
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/12>, abgerufen am 16.07.2024.
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